„Das philosophische Radio“ auf WDR5 gehört zu den erfolgreichen Formaten, die wichtige gesellschaftliche Fragen für ein Publikum jenseits von Hörsälen und Uni-Seminaren bearbeiten. Sein Erfinder, der Philosoph, Autor und Moderator Jürgen Wiebicke, hat das Format für den Ideenkongress an ein Live-Publikum angepasst: Auf der „Philosophischen Bühne“ erkundete er mit seinen Gästen die Konzepte hinter den Begriffen „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“ und „Gesellschaftlicher Zusammenhalt“ und die Frage, was beide Themen mit unseren Lebensverhältnissen und unserer Zukunft zu tun haben. Wie kann der Ungleichheit zwischen Regionen begegnet werden – zwischen dicht und dünner besiedelten, zwischen schwächeren und starken, zwischen wachsenden und schrumpfenden Regionen? Und was kann Kultur für den Zusammenhalt der Menschen leisten – vor allem in ländlichen Räumen?
Aus den Erkenntnissen der beiden vorangegangenen Kongresstage stellte Jürgen Wiebicke abschließend folgende Überlegungen an: Wie gelingt ein Verstehen auch über unterschiedliche Überzeugungen hinweg? Und wie lernen wir einen konstruktiven Umgang mit dem unausweichlichen Wandel? Ein Vortrag über „Gute Orte“, die durch das Engagement des Einzelnen und gemeinsames Tun entstehen.
„Einen schönen guten Morgen! Ich bin selbst gespannt, wie ich die Gesprächsfetzen zusammenbringe, die ich aus den vergangenen Tagen hier auf dem Ideenkongress noch im Ohr habe.
Wenn ich jetzt versuche, etwas über Verständigung und Streiten in der Demokratie zu sagen, dann geschieht das ja vor dem Hintergrund dessen, was gerade in der Gesellschaft geschieht. Darum würde ich gerne einen Umweg nehmen und zunächst ein paar Puzzlesteine hinwerfen. Sie können dann für sich überlegen, ob das gut beobachtet ist, oder an Ihrer persönlichen Realität vorbeigeht.
Stellen Sie sich für den Moment vor, ich sei Versicherungsvertreter und könnte Ihnen heute eine Police anbieten, die Ihnen Ihr gegenwärtiges Leben für die kommenden 20 Jahre garantiert. Ich vermute mal, die allermeisten würden zugreifen, wenn das ein glaubhaftes Angebot ist – und zwar deshalb, weil sich in unserer Gesellschaft die Vorstellung festgesetzt hat, dass eigentlich die besten Jahre vorbei sind, dass wir von einer Krise in die nächste taumeln.
Das ist übrigens auch begrifflich interessant: Am Anfang sprachen wir von der einen Krise, der Finanzkrise, dann irgendwann haben wir begonnen, die einzelnen Krisen beim Namen zu nennen. Inzwischen ist die Redeweise von den multiplen Krisen sehr gängig, und neulich habe ich gehört, dass auch das steigerungsfähig ist: Da war dann die Rede von permanenten multiplen Krisen. Ich bin mir sicher, es gibt schlaue Köpfe, die schon dabei sind, sich ein drittes Adjektiv zu überlegen, was man auch noch vor die Krisen stellen könnte.
Auch wenn ich das jetzt nur halb ernst sage, ist es natürlich eine traurige Entwicklung. Dieser Gedanke, unser gegenwärtiges Leben, so wie wir es jetzt haben, ist sowieso schon viel zu stemmen, und alles, was danach an Zukunft kommt, ist eher bedrohlich als erfreulich – dieser Gedanke ist alles andere als eine Kleinigkeit.
Darauf möchte ich gerne aufmerksam machen, weil es auch historisch ein ziemlicher Bruch ist mit der Logik der Moderne, mit der wir seit der französischen Revolution leben. Wenn ich mich an diejenigen wende, die so ungefähr mein Jahrgang sind, und noch dazu – das ist an diesem Ort hinzuzufügen – mit einer Westbiographie, dann sind wir eigentlich großgeworden in dem Geist: Man kann ganz viel bewegen. Es galt die Logik, zwei Schritte vor – und von mir aus einer wieder zurück. Aber ungefragt war klar, es gibt die Chance, dass die eigenen Kinder es besser haben werden als man selbst. Wir haben die Vorstellung oder Hoffnung vom gesellschaftlichen Fortschritt tief eingeatmet. Und das ist eine Denkbewegung, die wir nicht erfunden haben, sondern die ganz konstitutiv ist für die moderne Gesellschaft seit der französischen Revolution.
Das Vertrauen darauf, dass man gesellschaftliche Verhältnisse beeinflussen kann und dass es ein besseres Morgen geben kann, das ist fast weg. Viele der Gespräche, die ich hier geführt habe, die haben das nochmal deutlich grundiert. Sie waren getragen von der Vorstellung: Wir können nicht nur nicht halten, was wir haben, sondern die Gefährdung ist inzwischen so groß, wie hat es gestern jemand zu mir gesagt: „Ich denke jetzt nur noch dystopisch.“ Ich denke nur noch dystopisch. Ich rechne mit dem Schlimmsten. Und auch das gehört zu unserer Biographie, dass wir beobachten konnten, wie das Gegenteil von Dystopie – nämlich Utopie – wie utopisches Denken in den vergangenen Jahrzehnten verdunstet und ausgetrocknet ist. Die Imaginationskraft, dass man sich auch noch etwas anderes vorstellen kann als das Gegebene, dass es morgen vielleicht doch noch besser sein kann als heute, ist fast vollständig verschwunden.
Nun können wir überlegen: Was ist das eigentlich für eine Situation, in der wir stecken, wenn wir permanent mit diesem Krisenbegriff zu tun haben, der immerzu – und jetzt natürlich auch von mir – aufgerufen wird? Der erste Vorschlag, um sich selber am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen wäre, dass man sich klar macht, was Krise im eigentlichen Wortsinne heißt. Krise bedeutet nämlich nicht, dass alles automatisch den Bach runtergeht, sondern Krise heißt: Entscheidung oder Unterscheidung. Das heißt, jeder von uns ist mit der Tatsache konfrontiert, dass bestimmte Dinge, die eingeübt waren, an die man sich lange gewöhnen konnte, plötzlich in sehr schnellem Tempo entwertet werden, und dann muss man sich neu zur Welt verhalten. Man kann sich nicht aussuchen, in welche Zeit man hineingeboren wird. Wir sind nun mal in diese Situation hineingestellt, dass es große Umbrüche gibt und dass wir wenig wissen können über das, was kommen wird.
Für mich hat das nicht nur etwas Bedrohliches, sondern auch etwas sehr Erleichterndes, wenn ich mir selber eingestehen kann, Dinge nicht gut zu wissen. Ein anderer Zugang zu Orientierungslosigkeit und Ratlosigkeit ist nämlich, anzuerkennen: Ja, das ist meine Situation, und ich darf mir das auch zugestehen. Im Grunde ist es eine sokratische Situation. Wir fangen wieder da an, wo Philosophie begonnen hat, bei der Vorstellung des eigenen Nichtwissens: Ich weiß, dass ich nicht weiß. Sokrates war ja nicht der einzige. Ein wirklicher Kompass, um sich heute zu orientieren, ist für mich auch Montaigne, der im 16. Jahrhundert miterleben musste, wie ganz viel Vertrautes zerbrochen ist, wie Bürgerkriege vom Zaun gebrochen wurden, und der sich daraufhin zunächst zurückgezogen hat. Diese Tendenz merken wir an uns heute auch, dass wir oft einfach von der Welt gar nichts mehr wissen wollen und in diesen inneren Turm gehen.
Montaigne hat dann aber etwas verstanden, was ich als Grundgedanken für heute unglaublich wichtig finde: Nämlich, dass in einer Krisensituation, wenn das Vertrauen in Institutionen schwindet, die tragend sind für eine lebendige Demokratie – seien es die Parteien, die Gewerkschaften, die Kirchen, der öffentlich-rechtliche Rundfunk – wenn sie alle sich ihre Krise gleichzeitig nehmen, und diese Orientierungslosigkeit auch in diese Institutionen eingesunken ist, dass dann ausgerechnet in einer solchen Situation die Bedeutung des Individuums wächst. Es kommt stärker auf Einzelne an.
Die Verantwortung von Einzelnen, und auch die Gestaltungsspielräume von Einzelnen sind meiner Meinung nach etwas, was wir neu entdecken müssen und was chronisch unterschätzt wird. Wir sind im Moment sehr gut darin, marginalisierte Gruppen zu identifizieren, die ganz viele Beschwernisse in ihrem Leben mit sich führen. Aber was wir noch entdecken könnten, wäre die Gestaltungsmacht von Einzelnen, wie sie Einfluss nehmen können, gerade in schwierigen Zeiten, und da ist Montaigne ein guter Ratgeber. Worauf ich hinauswill ist, sich an den Gedanken heranzutasten, dass die eigene Ratlosigkeit nicht etwas ist, was man an sich selber bekämpfen muss. Ratlosigkeit kann der Ausgangspunkt für etwas Neues sein.
Mein Vorschlag wäre, dass wir uns in einer Gesellschaft, die von sich selber gerne als Wissensgesellschaft oder als Informationsgesellschaft spricht, herantasten an den Gedanken, dass wir in einer Nichtwissensgesellschaft leben. Das ist unsere derzeitige Situation: Wir leben in einer Nichtwissensgesellschaft. Es gibt niemanden hier im Saal und auch nicht außerhalb, der seriös darüber Auskunft geben könnte, wie wir in 10 oder 20 Jahren leben werden. Niemand weiß das, und wenn es jemand zu wissen vorgibt, glauben Sie kein Wort.
Alleine das Thema künstliche Intelligenz. Niemand von uns kann das wissen, inwiefern das unseren Alltag und unsere Berufe in 20 Jahren verändert haben wird. Und wenn man das einmal verstanden hat, dass das etwas ist, was man nicht an sich selber bekämpfen muss, dann ist auf einmal ganz viel möglich. Dann kann man sich zum Beispiel eine Kontrollfrage leisten, die mir vor einiger Zeit eine Freundin gestellt hat, und die mich intellektuell sehr weitergebracht hat. Sie hat nämlich gefragt: Wann hast du eigentlich in den vergangenen fünf Jahren in einer wirklich wichtigen Frage deine Meinung geändert? Sie hat verschmitzt geschaut, und ich wusste, sie stellt mir jetzt eine Falle, und wenn mir nichts einfällt, dann bin ich intellektuell blamiert. Wenn man da blank ist und es tatsächlich nichts gibt, wo man umgedacht hat, dann müsste man sich eigentlich selber dabei erwischen, dass man der heutigen Zeit gegenüber nicht mehr angemessen aufgeschlossen ist.
Die ganze Welt verändert sich, nur ich klammere an meinen Überzeugungen. Das kann doch nicht sein.
Das wäre mein erstes Angebot in Sachen Verständigung. Den eigenen Meinungsstolz zu überprüfen und zu schauen: Wie oft passiert es mir eigentlich, dass ich zwar meine Meinung geändert habe, aber ich im gleichen Kontext Falschgeld in Umlauf gebracht habe, indem ich so getan habe, als sei meine neue Meinung schon immer dagewesen? Das ist etwas sehr Menschliches und wir tun das häufig, aber das hält einer ehrlichen Überprüfung nicht stand. Ich glaube, dass sich ein ganzes Feld öffnet, gerade auch in den Polarisierungen von heute, wenn man sich selber einmal anschaut und die Art und Weise, wie man mit eigenen Meinungen und dem so furchtbaren Meinungsstolz umgeht. Ich hoffe, Sie haben etwas anzubieten, das in den letzten fünf Jahren passiert ist.
Was hat das mit Demokratie zu tun? Ich will nochmal darauf hinweisen, dass das Demokratieprojekt eine ziemlich anspruchsvolle Sache ist. Das verlangt Einzelnen etwas ab. Ich würde auch sagen, dass das an unseren vorigen beiden Abenden bei den philosophischen Bühnen ersichtlich geworden ist. Ich habe gestern Christiane Woopen gegenüber die Tugendfrage gestellt: Was muss eigentlich bei mir los sein, damit ich überhaupt anderen gegenüber verständigungsbereit sein kann? Wenn ein gesellschaftliches Projekt anspruchsvoll ist, dann gibt es viele Leute, die sich ausklinken. Das ist es, was wir grade erleben: die große Regression. Man reagiert auf Komplexität mit Unterkomplexität. Man erhofft, sich am eigenen Schopf aus dem gleichen Sumpf zu retten, indem man die Flucht in Richtung einfache Antwort antritt. Und ich würde gerne, auch wenn das quietscht und weh tut, darauf aufmerksam machen, dass das Rechtsextreme nicht für sich alleine haben. Sie sind meisterhaft darin, einfache Antworten anzubieten. Aber wenn ich mir anschaue, welche ausufernden Debatten wir seit einigen Jahren über Identitätsfragen führen und auch dadurch versuchen, sozusagen die eine Basis auszumachen für mein Leben in dieser Welt – Welche Bedeutung hat die Ethnische Herkunft? Welche Rolle hat das Geschlecht? Welche Rolle hat Religion? – das ist auch Teil der großen Regression, dass man nämlich versucht, die eigene Existenz ein für alle Mal von dem einen Punkt aus zu deuten. Dabei haben wir viel größere Chancen als Individuen. Wir haben nicht eine Identität. Wir haben ganz viele. Und zu dieser Idee von Moderne gehört die Vorstellung, dass ich als – hoffentlich – Autor meines eigenen Lebens auch meine Identität verändern kann und schon am nächsten Montag eine neue Facette meiner Persönlichkeit entwickeln kann.
Und die größte Chance, die eigene Persönlichkeit zu entwickeln, haben Menschen wie die, die hier auf dem Kongress vorgestellt werden. Das ist für mich etwas sehr Existenzielles. Das ist es, wie man seine eigene Welt verändern kann: Indem man mitwirkt, an Projekten, die nicht nur etwas Interessantes als Produkt bereitstellen, sondern die auch mich selber verändern, indem ich Teil von Vergemeinschaftung bin, mich mit anderen zusammentue und etwas mache. In diesem Moment erlebe ich mich selber anders als in der Welt des privaten oder auch als derjenige, der ich in der Arbeitswelt bin. Ich führe dann eine dritte Existenz. Ich habe eine ganz neue, hoffentlich sehr farbige Facette meiner Persönlichkeit entwickelt.
Bei mir ist es so, dass ich mich seit 20 Jahren dafür interessiere, was Menschen ins Engagement führt und auch, was sie im Engagement hält. Und dann habe ich für mich ein Wort überlegt für das, was auch zu dem passen könnte, was Sie hier auf dem Ideenkongress vorzeigen wollten. Das sind für mich „gute Orte“. Gute Orte unterscheiden sich von anderen Orten dadurch, dass nicht alleine die sozialen Daten, wer da so wohnt und lebt entscheidend sind, sondern auch etwas, was durch gemeinsames Tun überhaupt erst entsteht.
Und an guten Orten, von denen ich inzwischen zum Glück einige kennengelernt habe, an guten Orten ist immer die Frage: Warum? Warum machst du da mit? Warum bist du dabei, warum engagierst du dich in diesem Projekt? Du könntest doch zur gleichen Zeit eine Whiskyverkostung machen. Wenn ich dann beim Stellen dieser Frage in ein ratloses Gesicht schaue und die Frage nicht verstanden wird – „warum machst du hier eigentlich mit“ – wenn ich das merke, dann weiß ich, das ist ein guter Ort. Da kann sich jemand gar nicht mehr eine persönliche Existenz jenseits des Engagements vorstellen.
Da müssen wir hinkommen. Es hat etwas mit unserem Bild von Menschen zu tun, warum gute Orte entstehen oder nicht entstehen. Deswegen finde ich das auch so interessant, was wir jetzt hier für eine Reihe probiert haben, also das mit der Gleichwertigkeit, mit dem Zusammenhalt. Das hat eben auch diese subjektive Seite, die in meiner Wahrnehmung in unserer Gesellschaft zu wenig besprochen wird, dass Menschen, die mitwirken, etwas an sich entfalten können, was ihr Leben verändert. Deswegen bin ich auch so sehr gegen Zeigefingerdiskurse, wo man sagt: Du musst das und das machen, sonst geht das hier den Bach runter. Nein: Du darfst das machen.
Es gibt einen schönen Leitsatz, der für mich sehr wichtig geworden ist, von dem vor einiger Zeit verstorbenen Psychiater Klaus Dörner, der gesagt hat: Menschen sind nicht hilfsbedürftig, Menschen sind helfensbedürftig. Etwas geschieht mit ihnen, wenn sie merken, dass, was ich hier tue, das hinterlässt Spuren in der Welt. Es macht einen Unterschied, ob ich komme oder nicht komme. Ich werde gesehen in dem, was ich tue. Deswegen sind Anerkennungsfragen auch so wichtig in solchen Strukturen, dass wirklich jeder gesehen wird, in dem eigenen Beitrag.
Also, worauf ich aufmerksam machen möchte ist erstens: dass wir Nichtwissen nicht von uns weisen müssen, sondern geradezu umarmen können. Wir können uns in ein anderes Verhältnis setzen zur eigenen Ratlosigkeit. Und die geteilte Ratlosigkeit wäre für mich sogar ein Ideal für die Demokratie der Zukunft. Denn wenn man sich vorstellt, es kommen Menschen zusammen, die sich alle für sich selbst eingestehen können, dass sie gar nicht so viel wissen, aber gemeinsam klug werden wollen – da hätten wir sofort einen anderen Move, eine andere Dynamik da drin. Und damit ist zweitens dann auch klar, was ich gerne zusammenbringen möchte: Normalerweise verbinden wir Ratlosigkeit, Orientierungslosigkeit mit Ohnmacht. Man kann nichts machen. Ich gehe in die Handlungsstarre. Ich nehme diese Welt nur noch als Verhängnis wahr.
Aber ich glaube, dass wir das auflösen können. Wir können sagen: Ich darf ratlos sein, und ich darf trotzdem was machen.
Vielen Dank.“
Das vorliegende Transkript des ursprünglichen Vortrags wurde mit Einverständnis des Urhebers redaktionell angepasst, um den Lesefluss zu verbessern. Es gilt das gesprochene Wort.