Ideenkongress 2023

„Für mich ist Neugierde der Maßstab“
Interview mit Jürgen Wiebicke

„Das philosophische Radio“ gehört zu den erfolgreichen Formaten, die anspruchsvolle gesellschaftliche Fragen für ein Publikum jenseits von Hörsälen und Uni-Seminaren bearbeiten. Sein Erfinder, der Autor und Moderator Jürgen Wiebicke, will jeden Montagabend auf WDR5 mit seinen Gästen Neugierde wecken und im Idealfall in Gesprächen auf Augenhöhe stillen. Für den Ideenkongress in Chemnitz hat er seine Sendung an ein Live-Publikum angepasst. Im Interview verrät Jürgen Wiebicke, wieso ihn das Thema Zusammenhalt so beschäftigt, warum ihn der Popanz Konfrontation langweilt und worin der besondere Reiz einer geglückten Landung nach holprigem Start liegt.

Lieber Herr Wiebicke, wie finden Sie beim Philosophischen Radio Ihre Themen?
Jürgen Wiebicke: Wir bekommen Hinweise. Von unseren Hörerinnen und Hörern und von unseren Gästen. Wir schauen auf die Neuerscheinungen der Verlage. Wir versuchen einfach die Nase im Wind zu haben, um zu erschnuppern, was in unserer Gesellschaft gerade eine Rolle spielt. Welche Themen werden diskutiert, sind von besonderer sozialer Bedeutung oder fordern zum Nachdenken heraus. Unseren Maßstab, wann ein Thema relevant ist, hat übrigens Sokrates aufgestellt als er sagte, dass sich die Philosophie mit den wichtigen Dingen des Lebens beschäftigen sollte. Das funktioniert auch noch nach über zweieinhalbtausend Jahren.

Wie nähern Sie sich einem Thema?
Wiebicke: Bei der Auswahl der Themen haben wir eine ganz einfache Regel: Wir machen nur, was uns anspricht. Unsere Devise lautet: Wir müssen nicht. Das ist sehr wichtig. Haben wir uns auf ein Thema für eine Sendung verständigt, nähere ich mich diesem immer in zwei Schritten. Zuerst lese ich sehr viele Texte. Danach gehe ich schwimmen und versuche mir dabei über meine eigenen Fragen zum Thema klar zu werden.

Was ist wichtig bei der Wahl Ihrer Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner?
Wiebicke: Das ist die Bereitschaft unserer Gäste, anders zu sprechen als sie es sonst tun. Wir haben viele Gesprächspartnerinnen und -partner aus der akademischen Welt. Sie halten bei uns in der Sendung aber kein Oberseminar. Die Herausforderung ist, seine Gedanken in einfachen Worten so auszudrücken, dass Menschen sie verstehen, die eben nicht Philosophie studieren. Wir fordern unsere Hörerinnen und Hörer mit der Auswahl der Themen heraus. Wir wollen sie aber nicht überfordern – durch eine wissenschaftliche Fachsprache oder einen philosophischen Jargon.

Suchen Sie in den Gesprächen auch den Diskurs, agieren Sie konfrontativ, um Ihren Gast herauszufordern?
Wiebicke: Um ehrlich zu sein, bin ich der vielen konfrontativen Talkshows vor allem im Fernsehen müde. Besonders auch deshalb, weil die Gegensätze oft inszeniert wirken. Für unsere Sendung ist Konfrontation kein Wert an sich. Für mich ist Neugierde der Maßstab. Die Lust darauf, ein Thema zu entdecken, auch in seinen Widersprüchen. Entscheidend ist für mich auch, dass meine Gäste das Gefühl haben, sie konnten die Dinge sagen, die ihnen beim Thema der Sendung wichtig sind.

Hat eine Sendung auch schon einmal nicht funktioniert, weil die Gesprächspartner nicht funktionierthaben?
Wiebicke: Sicher. Sendungen gehen in die Hose. Weil der ganze schöne Katalog an Fragen nicht funktioniert, weil Moderator und Gast aneinander vorbeireden, einfach weil die Chemie nicht stimmt. Das Spannende für mich ist aber, dass gerade Gespräche, bei denen es anfangs knarzt und bei denen sich die Hörerinnen und Hörer fragen, wie kommt er aus der Nummer wieder raus, Sendungen sind, die am Ende besonders oft doch noch gelingen. Eine unverhofft geglückte Landung nach holprigem Start bleibt viel länger im Gedächtnis.

Auf dem Ideenkongress in Chemnitz werden Sie und Ihre Gäste sich unter anderem dem Thema Zusammenhalt nähern, mit einem Fokus auf das Leben in ländlichen Räumen. Warum haben Sie sich gerade für diesen Begriff entschieden?
Wiebicke: Weil wir gerade die gegenteilige Entwicklung erleben. Ein Auseinanderdriften unserer Gesellschaft. Das gilt nicht allein für das Land, aber dort scheint der Prozess manchmal stärker zu sein und wird auch vielfach dramatischer erlebt. Mich beschäftigt das Thema schon lange. Vor einigen Jahren habe ich ein kleines Büchlein über das Funktionieren unserer Demokratie geschrieben. Damit war ich auf Lesereise und bin durch viele Städte und Landschaften gereist. Fast überall hatte ich das Gefühl, dass es den Menschen immer schwerer fällt andere Sichtweisen zu akzeptieren. Wie wir mit der zunehmenden Intoleranz gegenüber anderen Meinungen umgehen, darüber lohnt es sich unbedingt nachzudenken und zu sprechen.

Erschienen am 14.09.2023.

Philosophische Bühne beim Ideenkongress:

27/09/2023, 19:00 Uhr, Festhalle
Gespräch zum Thema „Gleichwertigkeit“
Zu Gast: Prof. Dr. Jürgen Aring, Diplom-Geograf und Stadtplaner, Vorstand des vhw-Bundesverband für Wohn- und Stadtentwicklung e.V.

28/09/2023, 18:30 Uhr, Festhalle
Gespräch zum Thema „Zusammenhalt“
Zu Gast: Prof. Dr. Christiane Woopen, Direktorin Center for Life Ethics, Universität Bonn

29/09/2023, 09:30 Uhr, Festhalle
Vortrag zum Thema „Streiten und Verständigen“

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