Ideenkongress 2023

„Der Prozess ist die Kraft“
Interview mit Prof. Dr. Wiebke Waburg und Micha Kranixfeld

Künstlerinnen leben für einige Zeit in einer Gemeinde und entwickeln mit den Menschen vor Ort gemeinsam Kunst: Seit einigen Jahren gewinnen in ländlichen Räumen solche beteiligungsorientierten Künstlerresidenzen an Relevanz. In der TRAFO-Modellregion Uecker-Randow hat sich dieses Format als Dorfresidenz etabliert – Grund genug, den partizipativen Residenzformaten auch beim Ideenkongress einen Themenraum zu widmen. Kuratiert wird dieser von Prof. Dr. Wiebke Waburg und Micha Kranixfeld von der Uni Koblenz. Wir haben mit beiden über ihre Forschung zum Thema gesprochen: Was kann das Format für kleine Städte und Dörfer leisten? Welche Wirkungen haben die Arbeiten der Künstlerinnen auf die lokalen Gemeinschaften? Und welche Ideen bleiben, wenn die Künstler wieder gehen?

Liebe Frau Waburg, lieber Herr Kranixfeld, was verbirgt sich hinter beteiligungsorientierten Künstlerresidenzen?
Wiebke Waburg: Beteiligungsorientierte Künstlerinnenresidenzen setzen auf die Partizipation der ortsansässigen Bevölkerung. Residenzen gibt es ja schon lange. Beim klassischen Modell stehen meist die Künstlerinnen und Künstler im Vordergrund, wie bei Stadtschreibern oder in den Künstlerinnenkolonien. Bei den neu entwickelten Formaten fragt man hingegen stärker: Wie können die Menschen vor Ort Teil des künstlerischen Arbeitens werden? Die Künstlerinnen und Künstler müssen also viel im Ort unterwegs sein. Sie müssen die Leute kennenlernen, Vertrauen aufbauen, sich als Person einbringen und sehen, wer hat Lust, mitzumachen? Was sind die Themen, die vor Ort interessieren? Welche Gruppen kann ich eventuell zusammenbringen? Ein wichtiger Faktor ist es also, Zeit in Begegnungen zu investieren.
Micha Kranixfeld: Das Vorgehen in partizipativen Künstlerresidenzen entsteht als Antwort auf die Bedingungen, die es vor Ort gibt. Da wird nicht versucht, einen passenden Gastspielort zu finden für ein fertiges Stück, sondern es wird z.B. gefragt, wie ein Vereinsheim temporär zum Filmstudio werden kann, um die Zukunft des ungenutzten Fußballplatzes zu verhandeln. Dahinter steht nicht mehr ein autonomer Kunstbegriff, sondern einer, der bewusst nach Schnittstellen zu anderen Feldern gesellschaftlichen Handelns sucht – ein „undiszipliniertes“ Arbeiten. Und ein Künstlerbild, das eben nicht nur von der eigenen starken Handschrift ausgeht, sondern wo es heißt: „Wir oder das, was wir tun, entwickelt sich erst in diesem Austausch – unsere Kunst schöpft aus der Begegnung mit der Bevölkerung.“

Was waren oder sind die Gründe für diese Formate, worin liegt ihr Potenzial?
Kranixfeld: Seit einigen Jahren gibt es eine Tendenz wieder stärker zu verhandeln, wie Kulturarbeit in ländlichen Räumen aussehen kann. Damit verbunden sind die Fragen: Wie arbeiten wir zusammen? Wie entwickeln wir Kultur vor Ort? Und welche Rolle spielen dabei eigentlich noch Leute, die von außen dazukommen? Solche Fragen und mögliche Antworten sind in Residenzformaten angelegt. Die Künstlerinnen und Künstler sind aufgerufen, ihre Arbeitsweisen zu verändern und etwas Neues zu entdecken. Die Bevölkerung ist herausgefordert, mit künstlerischen Mitteln ihre Welt noch einmal anders anzuschauen. Auf beiden Seiten gibt es die Möglichkeit eines Perspektivenwechsels. Ländliche Räume werden auf diese Weise als Handlungsfelder gesamtgesellschaftlicher Fragen in den Blick genommen.

Welches wissenschaftliche Interesse haben Sie an beteiligungsorientierten Künstlerresidenzen?
Waburg: Wir haben zunächst eine Änderung in der Wahrnehmung bemerkt: Man denkt nicht mehr so häufig, ländliche Räume müssten versorgt werden mit Kunst oder an sie herangeführt werden, sondern es braucht einen Prozess des Arbeitens vor Ort mit den Bedingungen, die es vor Ort gibt. Also ein beteiligungsorientiertes künstlerisches Arbeiten in einem Sozialraum und mit dessen Bedingungen. Das ist derzeit ein Themenfeld, mit dem wir uns beschäftigen. Weil es auf bestimmte Kontexte des Lebens in ländlichen Räumen und dessen Herausforderungen antwortet. Was bedeutet Gemeinschaft in unserer Gesellschaft noch? Was bedeutet Mobilität? Das kann man auch in ländlichen Räumen verhandeln, und das passiert dann natürlich auch in diesen Residenzen.
Kranixfeld: In dem Format Künstlerinnenresidenz scheinen verdichtet Fragen rund um Prozesse kultureller Bildung in ländlichen Räumen auf. Man kann beobachten, wie wichtig persönliche Beziehungen dabei sind: Es entwickelt sich ein „Antwortgeschehen“ zwischen den Beteiligten, dessen Effekte vielleicht erst sehr viel später sichtbar werden.

In unserem TRAFO-Projekt in Uecker-Randow hat eine Dorfresidenz in Pasewalk den Impuls für einen neuen Begegnungsort gesetzt, der jetzt eigenverantwortlich weitergeführt wird. Welche Kraft können solche Künstlerresidenzen, eventuell auch langfristig, entwickeln?
Waburg: Der Prozess ist die Kraft. Unser Eindruck ist, dass das, was man zusammen macht, für die Orte wichtig ist. Dazu gehört die Verantwortung, die man als Dorf, als Gemeinschaft übernimmt und teilt, um die Wirkungen dann selber weiter zu entfalten.
Kranixfeld: Es ist sehr individuell, wer was mitnimmt. Vielleicht bleibt so zunächst erst einmal nur die Chat-Gruppe bestehen, die die Frauen des Ortes über den Zeitraum der Residenz neu vernetzt hat. Aber auch in so etwas Kleinem ist ja schon ein Impuls gesetzt, den es ohne die Künstlerinnenresidenz nicht gegeben hätte.
Waburg: Ich finde es wichtig, von großen Erwartungen ein bisschen wegzugehen und zu sagen: Was da passiert, ist gut für den Moment. In der Zeit der Künstlerresidenz wird sich mit Kunst beschäftigt oder durchläuft man einen kulturellen Bildungsprozess. Was daraus wird, ist von den Beteiligten abhängig und davon, dass möglicherweise weitere Projekte folgen. Ich glaube, nur durch eine Kontinuität in der Förderung und Begleitung kann es Nachhaltigkeit geben.

In Dorfresidenzen kommt also vieles zusammen: Erwartungen und Vorstellungen aus ganz unterschiedlichen Richtungen und von ganz heterogenen Beteiligten. Liebe Wiebke Waburg, lieber Micha Kranixfeld, wir freuen uns auf einen vielstimmigen Themenraum und auf den Austausch darüber, wie solche komplexen künstlerischen Formate gut begleitet werden können und was es dafür braucht.

Dorfresidenzen: 
• 04. Juni 2023, Battinsthal: Aufführung „Das Fest – Tanz auf dem Plateau“
• Kulturlandbüro: Dorfresidenzen im TRAFO-Projekt in Uecker-Randow

Mehr Infos:
• Forschungsprojekt: "DO_KiL: Der Dritte Ort? Künstlerische Residenzen in ländlichen Räumen"
• Kulturlandwerkstatt mit M. Kranixfeld: "Partizipation als künstlerische Strategie"