Kulturhäuser sind in vielen ländlichen Regionen Ostdeutschlands Sehnsuchtsorte, denn es gibt sie dort nicht mehr: Diese Orte, an denen Hochzeiten stattfanden, man das erste Popkonzert besuchte, wo Kino und Ausstellungen gezeigt wurden. Gemeinsam mit der Stiftung Genshagen geht TRAFO der Vergangenheit und Gegenwart von Kulturhäusern im deutsch-französisch-polnischen Vergleich nach. Julia Effinger und Magdalena Nizioł von der Stiftung Genshagen berichten im Gespräch von den Gemeinsamkeiten und den Unterschieden von Kulturhäusern in den drei Ländern. Und sie wagen einen kurzen Ausblick, auf die Frage, um die es im von ihnen kuratierten Themenraum beim TRAFO-Ideenkongress gehen wird: Welche Utopie verkörpern Kulturhäuser und wie bereichern sie konkret ländliche Räume?
Liebe Julia Effinger, liebe Magdalena Nizioł, die Stiftung Genshagen beschäftigt sich im Rahmen des sogenannten Weimarer Dreiecks mit politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen in Frankreich, Deutschland und in Polen. Warum sind gerade Kulturhäuser für die Stiftung Genshagen von Interesse?
Julia Effinger: Seit 2018 behandeln wir in der Stiftung Genshagen die Kultur in ländlichen Räumen als einen Schwerpunkt. Dabei sind die Begegnungsorte für eine ländliche Gesellschaft ein wichtiges Thema: Orte, die es heute seltener gibt als früher, Orte eben wie Kulturhäuser. Deshalb wollen wir herausfinden, welches Potenzial die Tradition der Kulturhäuser hat – in Deutschland, Frankreich und Polen, wo ihre Bedeutung heute sicher noch am größten ist.
Gibt es in den drei Ländern ein allgemeines Verständnis darüber, was Kulturhäuser sind?
Effinger: Eine Gemeinsamkeit von Kulturhäusern scheint zu sein, dass sie verschiedene Künste unter einem Dach vereinen. Darüber hinaus werden Kulturhäuser als Einrichtungen verstanden, die einerseits für ein Publikum, also den Kunstgenuss, da sind und andererseits die Bildung und das Kulturschaffen der Menschen vor Ort fördern sollen, was in allen drei Ländern zum Teil auch auf die Tradition der Arbeiterbewegung zurückgeht. Der Aspekt der Begegnung ist ebenfalls wichtig. Aber natürlich gibt es von Land zu Land auch Unterschiede und Besonderheiten.
Schauen wir zuerst nach Polen. Was bedeuteten dort Kulturhäuser und welche Rolle spielen sie heute?
Magdalena Nizioł: In Polen genießen Kulturhäuser einen hohen Stellenwert. Ihre Anfänge reichen bis ins 18. Jahrhundert zurück. Im 19. Jahrhundert existierte Polen nicht als Staat, es war zwischen Preußen, Österreich und Russland aufgeteilt und es entstanden Lesesäle und soziokulturelle Vereinigungen, um die polnische Sprache und Kultur zu pflegen. In der Zwischenkriegszeit, nachdem 1918 Polen seine Unabhängigkeit wiedererlangt hatte, wuchs die Zahl der Kulturhäuser stetig, 1939 gab es um die 5.000 Häuser. Nach dem Zweiten Weltkrieg im kommunistisch regierten Polen dienten die Kulturhäuser in erster Linie der Verbreitung sozialistischer Kulturideologie. Mit dem Tauwetter der späten 1950er-Jahre, als die Überwachung nachließ, konnten sich die Kulturhäuser der Kulturvermittlung auch jenseits der Propaganda widmen. Direkt nach der Wende 1989 litt die Kultur unter den schwierigen Bedingungen der Transformationszeit: Es fehlte Geld, viele Häuser mussten schließen. Erst nach und nach entwickelte das Kulturministerium neue Konzepte für die Kulturhäuser. Es ging um die Wiederbelebung einer schon vorhandenen Infrastruktur. Viele Häuser setzen nicht nur auf die Vermittlung von Kunst, sondern auf die Partizipation an der Kultur. Das statistische Hauptamt Polens definiert Kulturhäuser als Orte, die unter einem Dach soziokulturelle Aktivitäten durchführen. Die Verantwortung für die Organisation und den Betrieb der Kulturhäuser liegt in erster Linie bei den lokalen Behörden.
Auch in der DDR waren Kulturhäuser Teil des Verständnisses von einer sozialistischen Kulturversorgung. Ab der Wende aber ist das Bild ein anderes…
Effinger: Das Dilemma war, dass die Institutionen, die im Westen eine Entsprechung hatten – wie Museen, Theater, Bibliotheken, Orchester –, übernommen wurden: Kulturhäuser gab es aber nicht im Westen, die allermeisten Häuser sind also abgewickelt worden. Das ist etwas, was in vielen ländlichen Räumen bis heute als Verlust wahrgenommen wird. Kulturhäuser waren Orte der staatlich gelenkten Präsentation von Kultur und der kontrollierten Kulturvermittlung, aber auch Orte, an denen man sich bilden konnte und – vor allem auf dem Land – Orte, an denen man sich traf.
Wie ist die Lage in Frankreich?
Effinger: Ab den 1960er-Jahren knüpfte der französische Staat an die Volksbildungstradition der Kulturhäuser als Vermittler von Kultur und Bildung an, wobei es nun darum ging, Hochkultur zugänglich zu machen. André Malraux, der damalige Kulturminister, war überzeugt: „Kulturhäuser sind moderne Kathedralen, bloß ohne Religion. Orte, an denen die Menschen zusammenkommen, um dem Besten in ihnen zu begegnen.“ Die Menschen sollten unabhängig vom Einkommen Kultur genießen können, und das auch außerhalb von Paris – im zentralistisch organisierten Frankreich ein Fortschritt. Die Kulturhäuser waren somit auch ein Mittel zur Dezentralisierung.
Mit Erfolg?
Effinger: Nur zum Teil. 1961 wurde das erste Kulturhaus eröffnet, 1983 das letzte. Es entstanden nur 16 Häuser, die wirklich das Ideal erfüllten, in denen Konzerte, Theater, Ausstellungen und Kino in großem Maßstab stattfanden, die also das ganze Spektrum der Künste abdecken. Es scheiterte am Geld. Aber um einige Prinzipien der Kulturhäuser – vor allem die der Dezentralisierung und Demokratisierung – weiterführen zu können, hat das Kulturministerium Nachfolgeinstitutionen gegründet. Das sind unter anderem interdisziplinär ausgerichtete (Theater-)Häuser, die unter dem Label „Scène nationale“ firmieren. Heute gibt es davon 76. Sie fördern nicht nur das zeitgenössische Kulturschaffen – auch über die Bühnenkünste hinaus – sondern haben außerdem einen Vermittlungsauftrag.
Aktuell versuchen in Ostdeutschland einige Initiativen Kulturhäuser wiederzubeleben. Welches Potenzial sehen Sie in Kulturhäusern in Deutschland?
Effinger: Das Spannende ist, dass es dabei um Initiativen aus der Zivilgesellschaft geht. Menschen aus den Gemeinden, die sich dafür einsetzen, einen Ort (wieder-)zubeleben, damit dort Künstlerinnen und Künstler arbeiten und präsentieren können. Die Menschen eignen sich ihr Umfeld an, sie wollen Begegnungsorte schaffen. Dass in ehemaligen Kulturhäusern wieder Raum für Künste entsteht, ist gerade für ländliche Regionen ein enormer Gewinn.
Was können „wir“ in Deutschland von den Erfahrungen in Polen lernen?
Nizioł: Was wichtig ist, trotz einer wechselvollen Geschichte, ist die Kontinuität. Heute sind Kulturhäuser in Polen nicht nur Orte der kulturellen Betätigung, sondern auch Orte zivilgesellschaftlichen Engagements. In ländlichen Gegenden Polens sind Kulturhäuser wichtige Impulsgeber. Sie bieten die Möglichkeit, in den Genuss von Kultur zu kommen, selbst zu Kulturschaffenden zu werden und dies mit anderen zu teilen. Sie regen lokale Gemeinschaften zum Handeln an und inspirieren die Menschen dazu, ihr lokales Kulturerbe zu pflegen und ihre Traditionen neu zu leben.
Und aus Frankreich?
Effinger: Kultur in einem beständigen Austausch zwischen urbanen Zentren und dem Land zu verstehen, ist sicherlich bedenkenswert. Eine andere Sache ist, dass die „Scènes nationales“ untereinander vernetzt sind und sich austauschen. Das gibt es in Deutschland nicht, wo die Initiativen eher isoliert an der Wiederbelebung der vielfältigen Tradition Kulturhaus arbeiten.