Das Unterwegssein und der Wandel haben schon immer zum Theater Lindenhof in Melchingen gehört. Durch das TRAFO-Programm haben wir gelernt, dass wir noch mehr als ein Theater sein können, schreibt Stefan Hallmayer, Intendant des Theaters.
Früher hat der Regisseur Klaus Peymann einmal im Jahr bei uns im Theater Lindenhof angerufen: „Wie geht es meinem Theater in den Bergen?“, fragte er jedes Mal, und dann sprachen wir über Kooperationsmöglichkeiten. Diese Gespräche kreisten stets auch um unseren Standort. Die Verortung eines Theaters spielt grundsätzlich eine bedeutende Rolle. Für die Kunst ist es nicht egal, wo die Bühne steht. Ein Theater, das in einem Dorf mit 936 Einwohnern zu Hause ist, kann nicht nur dort seine Aufführungen ansetzen und warten, bis die „Bude voll ist“, sondern es muss unterwegs sein.
Um überleben zu können, sind wir auf Kooperationen angewiesen, auf das Erschließen neuer Spielräume, auf Partnerschaften und Auftritte bei Festivals. Das Unterwegssein gehört zur Natur unserer Bühne. Transformation ist ein Dauerzustand. Im Spannungsfeld zwischen Stadt und Land, zwischen Hochsprache und Dialekt, zwischen dem Nahen und dem Fernen.
Wir haben jährlich ungefähr 200 Vorstellungen zu Hause in Melchingen und circa 200 Veranstaltungen anderswo. Davon findet die Hälfte in klassischen Veranstaltungskontexten wie Tourneebetrieb, Sommertheater oder Stadthallenbespielung statt und weitere 100 in nicht klassischen Veranstaltungsorten: in Wohnzimmern, Schulen, Betrieben, Gaststätten, Tiefgaragen oder gar in Gerichtssälen. Diese Vielfalt ist auch ein Ergebnis des TRAFO-Programms.
Durch TRAFO konnten wir unser Wirken in Melchingen und in unseren Nachbargemeinden neu definieren. Mit der Unterstützung der Kulturstiftung des Bundes haben wir uns in Produktionen versucht, über die wir zwar immer wieder nachgedacht hatten, für die aber nie die Mittel vorhanden waren. So entwickelten wir unter anderem ein Erzählcafé, das Format der Wohnzimmertheater oder die Theaterexperimentierclubs. Wir leben in turbulenten Zeiten: Die pluralistische Gesellschaft scheint immer wieder infrage gestellt, die digitale Revolution verändert unsere Lebenswelt, unser Planet steht vor dem Kollaps. Die Diskussion dringlicher Lebensfragen braucht Orte wie unsere Theater, die den Konflikten in unserer Lebenswelt Ausdruck geben. Orte, die uns an unsere Geschichte erinnern und Labore für Gegenwarts- und Zukunftsfragen sind. Unser Theater auf der Schwäbischen Alb, mitten im Dorf, ist ein solcher Ort und ein Labor.
Neben der Öffnung für neue Formate und Kooperationen, halte ich die Definition unseres Hauses als ein offenes Haus, das vielen Bedürfnissen Raum bietet, für besonders wichtig. Dennoch sind und bleiben wir ein Theater. Das ist unsere Mitte. Wir werden immer unterwegs sein – sowohl aus ökonomischen Erwägungen heraus, aber auch aus künstlerischer Neugier.
Seit TRAFO wissen wir aber, dass wir zu Hause in Melchingen mehr als ein Theater sein müssen.
Wenn wir mit unserer künstlerischen Arbeit das Zusammenleben gestalten, warum nicht auch mit unserer räumlichen Infrastruktur und unseren personellen Ressourcen? Also haben wir unser Karten- in ein Servicebüro verwandelt. Wir haben eine Kooperation mit der Gemeinde und mit dem Tourismusverband abgeschlossen. Heute gibt es bei uns im Servicebüro neben Theater- auch Wanderkarten und gelbe Säcke, und man kann bei uns einen Kaffee trinken. Es gibt außerdem einen Theaterfriseur in der Künstlergarderobe, die wir für unsere Vorstellungen erst ab 18.00 Uhr brauchen. Hier lassen sich die Melchinger gerne die Haare schneiden und tauschen Nachrichten aus. Wir können uns vorstellen, auch andere Dienstleistungen in unser Haus zu holen und unser Servicebüro um eine Mitfahrzentrale oder um eine Abteilung der Stadtbibliothek zu erweitern. Wir möchten unsere Kooperationen mit Schulen erweitern und unsere Räume auch Firmen und Privatpersonen für Veranstaltungen zur Verfügung stellen – vom Firmenevent bis zu Hochzeit.
Jeder Wanderer soll bei uns einkehren können.
Das Haus soll offen sein.
Am besten Tag und Nacht.
Ein Land Gast Haus.
Für jeden.
Exkurs: Theater auf Tuchfühlung
Projekte des Theaters Lindenhof
Postkasten
Der mobile Postkasten des Theaters Lindenhof sieht von außen ein bisschen wie ein Passfoto-Automat aus. Seine Nutzer öffnen einen roten Vorhang und stehen vor einem roten Buzzer. Darauf ein Pfeil mit der Aufschrift „Bitte drücken“. Der Postkasten ist für die Theatermacherinnen eine Möglichkeit, mit den Menschen aus der Region in Kontakt zu treten. Drückt man den Knopf, wendet sich der Intendant des Theaters an den Besucher und ermuntert diesen, die im Postkasten angebrachten Fragen zu beantworten oder eigene Fragen zu stellen.
Der begehbare Postkasten ist in verschiedenen Orten auf der Schwäbischen Alb unterwegs, auf der Suche nach Fragen und Antworten: eine offene, verspielte Form, um den Stimmen aus der Nachbarschaft eine Bühne zu geben. Er war bisher in der Bücherei Mössingen, in der Alice-Salomon-Schule in Hechingen und im Volkshochschulheim Inzigkofen zu Gast.
„Es geht bei unserem Postkasten nicht darum, so viele Zuschriften wie möglich zu sammeln“, sagen seine Erfinderinnen, die Künstler Silvie Marks und Johannes Schleker. „Es soll ein ständiges Angebot sein, das das Theater mit der Region verbindet.“ Die eingehende Post wird vom Theater bearbeitet. Und das geschieht auch vor Publikum. Die erste Leerung fand als interaktive Performance auf der Bühne statt. Aus Fragen und Antworten entwickelten die Schauspielerinnen ein Improvisationstheater. Die Zuschriften wurden außerdem zu einem Spiel verarbeitet, in dem Antworten und Fragen nach dem Zufallsprinzip kombiniert werden können.
Wohnzimmertheater
Theater zu Hause auf der Couch. Das ist die Idee des Wohnzimmertheaters. Als Gastgeber „bestellt“ man das Stück kostenlos an der Theaterkasse. Am vereinbarten Abend lädt man Verwandte und Bekannte zu sich nach Hause ein, und dann klingelt es an der Tür. Davor steht ein Schauspieler des Theaters Lindenhof. Im Gepäck hat er ein Stück, seine Dauer: eine Stunde, sein Inhalt: eine Kiste voll Erinnerungen an die besten Momente seiner Bühnenkarriere.
Im heimeligen Raum des Wohnzimmers wird der Schauspieler schnell privat. Er schweift ab und hadert – mit sich, mit seinem Beruf, mit der Welt, mit dem Publikum und mit dem Lachen. „Irgendwas hat sich geändert“, sagt der Schauspieler Franz Xaver Ott in dem selbst entwickelten Einmannstück „Lachen“. „Warum lachen alle nur noch über das Ewiggleiche? Warum lässt sich niemand mehr überraschen? Wann hat ein Lachen überhaupt noch Bedeutung?“ In der Ein-Mann-Wohnzimmerperformance will er es noch einmal wissen. Für ihn ist noch nicht Schluss mit lustig. Mit Lach-Yoga, absurden Musikeinlagen und verzweifelter Komik nimmt er das Publikum mit auf die Suche nach dem wahrhaftigen Lachen.
Nach dem Stück sitzt der Schauspieler noch mit den Zuschauerinnen zusammen. Denn das ist die Idee dieses privaten Theaterabends: Die Theatermacher kommen zu ihrem Publikum nach Hause, lernen die Menschen und ihre Wünsche kennen. Näher dran geht es wohl kaum.
Erschienen im April 2020.