Regionen

Interview mit Prof. Martina Wegner: „Kunst, Kultur, Kommune“

Der demografische Wandel stellt viele Kommunen in Deutschland vor schwierige Fragen. Die Kultur kann dabei helfen, die Debatte darüber in der Zivilgesellschaft voranzutreiben, erklärt Frau Prof. Martina Wegner im Interview. Das zeige auch der Saarpfalz-Kreis, welcher der Kultur im Rahmen seiner Demografiestrategie einen besonderen Platz eingeräumt hat.

Liebe Frau Wegner, im demografischen Wandel sehen viele Kommunalpolitiker vor allem eine Herausforderung für die Infrastruktur. Dass er auch Chancen bietet, wird von den Kommunen weniger wahrgenommen. Warum?
Martina Wegner: Der demografische Wandel hat weder in den Kommunen noch in der Bevölkerung einen guten Klang. Die Vision von aussterbenden Dörfern, in denen Häuser und Wohnungen leer stehen und das Angebot an Mobilität, Schulen oder Nahversorgung immer kleiner wird, bedeutet für die Kommunalpolitikerinnen einen Mangel an Gestaltungsmöglichkeit und für die dort lebenden Bürger eine sinkende Lebensqualität.

Die meisten Kommunen und ihre Amtsspitzen verbinden mit dem demografischen Wandel unbewältigbare Infrastrukturherausforderungen, von der Taktung des ÖPNV über den Erhalt von Schulgebäuden bis hin zur Abwasser- und Abfallentsorgung. Das sind alles Themen, für deren Lösung die Kommunen zumeist nur begrenzte Mittel zur Verfügung haben. Da liegt es nahe, zunächst alles aus dem kommunalen Haushalt zu streichen, was nicht zu den Pflichtaufgaben gehört bzw. nicht überlebensnotwendig scheint: Schwimmbäder, die Pflege von Grünanlagen und Kultureinrichtungen und -veranstaltungen.

Dass der demografische Wandel auch Chancen bietet, ist oft erst auf den zweiten Blick erkennbar und wird von den Kommunen weniger wahrgenommen. Man sollte sich aber vergegenwärtigen, dass der demografische Wandel grundsätzlich ein Thema ist, das sich in jeder Kommune auf andere und ganz eigene Weise stellt: Das oft zitierte „weniger, älter, bunter“, das die Bevölkerungsentwicklung in Deutschland charakterisiert, ist überall etwas anders ausgeprägt. So gibt es Regionen, in denen die Bevölkerung abnimmt, aber auch Regionen, in denen sie aufgrund von Zuzug (auch aus anderen Ländern) stabil bleibt oder wächst. In den meisten Fällen wächst der Anteil älterer Menschen an der Gesamtbevölkerung, wenn auch unterschiedlich stark.Weiterführende Literatur: https://www.berlin-institut.org/themen/national/demografischer-wandel1 Zudem unterscheiden sich die Ressourcen und Potenziale der Kommunen und damit auch die Handlungsfelder, in denen sie tätig werden müssen. Um das anzupacken, braucht es eine Strategie und jemanden, der dafür zuständig ist.

Das hat der Saarpfalz-Kreis erkannt: Dort gibt es die Stabsstelle zur Gestaltung des gesellschaftlichen und demografischen Wandels. Schon der Name ist gut gewählt, denn es geht um einen gesellschaftlichen Wandel – und der ist eigentlich nichts Besonderes oder Einmaliges, weil er ständig passiert, aber andererseits ist er es natürlich doch, weil es um nichts weniger als um die Zukunft und um die Frage geht, wie wir in Zukunft leben wollen.

Welche Strategien entwickeln Kommunen in Deutschland, um dem demografischen Wandel zu begegnen und ihn bestenfalls mitzugestalten?
Wegner: Das Bundesfamilienministerium hat ein kleines, feines Projekt (Demografiewerkstatt Kommunen) aufgelegt, in dessen Rahmen Kommunen, die besonders stark vom demografischen Wandel betroffen sind, Bewältigungsstrategien entwickeln sollten. Das Erstaunliche war, dass – nach einer Weile des Nachdenkens über Angebote für ältere Menschen – eine ganze Reihe von Kommunen angefangen hat, Jugendbefragungen und -workshops durchzuführen, um herauszufinden, wie die Menschen morgen leben wollen. Sie haben angefangen, über die Identität ihrer Kommune nachzudenken und über das, was Menschen an ihrem Ort hält. Und das sind nicht immer die hard facts, sondern auch die manchmal etwas abwertend bezeichneten weichen Faktoren. Und dazu gehört zu einem nicht geringen Maße die Kultur. Kultur kann in einer Gesellschaft viel bewirken: Sie kann Teilhabe für alle schaffen; sie kann Alt und Jung zusammenbringen; sie kann den Zusammenhalt in der Gesellschaft durch gemeinsames Erleben und geteilte Emotionen stärken; sie kann bei der Aushandlung von Werten helfen und demokratisch wirken. Kultur bedeutet Kreativität, Emotion, Interesse und Offenheit – sie öffnet das Fenster zur Welt.

Die kleine Stadt Adorf im sächsischen Vogtland beispielsweise setzt auf solche Erlebnisse, wohl wissend, dass sie als Wirtschaftsstandort nicht punkten kann – wohl aber als Wohnstadt mit Kulturfaktor. In Grabow stärken einmal im Monat Konzerte im Schützenpark der Stadt die Identifikation mit dem Ort: Die Menschen picknicken bei Musik mit der ganzen Familie – eine Tradition, die erst vor einigen Jahren wiederbelebt wurde. Für attraktive Arbeitsplätze wird ein Standort geschätzt und respektiert, für solche Erlebnisse wird er geliebt.

Wird dieses Potenzial von den Kommunen genutzt?
Wegner: Es wird zunehmend erkannt und es wird versucht für die Gemeinschaften fruchtbar zu machen. An immer mehr Orten gibt es Projekte, in denen über die Kunst Zugänge zu bestimmten Personengruppen gesucht werden: Zum Beispiel bei Menschen mit Demenz, bei Menschen mit körperlichen oder geistigen Einschränkungen oder auch bei Geflüchteten. Der Fokus liegt hier auf einem emotionalen und kreativen Zugang, frei von Leistungs- und Effizienzdenken.Weiterführend dazu: Schultz, Oliver: Die Kunst der Demenz, 2017; http://improks.de/2 In vielen Städten gibt es Kunstprojekte, in denen Menschen mit Fluchterfahrung ihre Erlebnisse verarbeiten und durch ihre Arbeiten sichtbar werden.

Dass ein Landkreis die Kultur in seine Demografiestrategie einbindet, wie es hier im Saarpfalz-Kreis geschieht, ist eher ungewöhnlich. Was kann man von den Projekten lernen, die der Kreis ins Leben gerufen hat?
Wegner: Der Hintergrund im Saarpfalz-Kreis ist ähnlich wie in vielen Regionen und Kommunen: Die Einwohnerzahlen gehen zurück und die Kassen sind leer. Es zeigt sich: Wenn die Mittel knapp sind, muss man erfinderisch sein und zunächst die bestehenden Ressourcen prüfen. So ist es eine großartige Idee, einen Instrumentenpool ins Leben zu rufen. Natürlich, weil damit mehr Musikunterricht und -veranstaltungen ermöglicht werden; das allein wäre schon ein wichtiges Ziel. Gleichzeitig erinnern sich Menschen an die (nicht immer gelungenen) musikalischen Anfänge ihrer Kinder und kommen darüber ins Gespräch, andere erinnern sich an eigene Veranstaltungen, die sie besucht oder mitgestaltet haben, oder an Verwandte, die ihnen diese Instrumente vererbt haben. So fließen in diesen Pool nicht nur Instrumente ein, sondern auch Erinnerungen an vergangene Zeiten und Erlebnisse, an Menschen und Situationen, die auch mit der jeweiligen Stadt, dem Dorf und seinen Orten verbunden sind. Und diese Emotionen haben nun eine Fortsetzung, kennen eine Zukunft – und damit wird auch ein Stück Identität der Kommune sichtbar.

Es ist offensichtlich, dass hier die Not zum Erfolgsfaktor wird: Würde die Stadt einfach neue Instrumente kaufen und diese verleihen, wäre die Chance verpasst, dass durch die Beiträge der Bürgerinnen hier etwas Neues entstehen kann und auch die Chance, stolz auf diesen Pool zu sein. Verspielt hätte man auch das originäre Interesse, das die Veranstaltungen, die durch diesen Pool ermöglicht werden, von den Spendern der Instrumente erhalten. So kommt vieles in Bewegung, das für Geld nicht zu haben ist.

Es braucht also nur geringe finanzielle Mittel, damit solche Ideen umgesetzt werden können. Aber wie können die so entstandenen Ansätze und Strukturen auch verstetigt werden?
Wegner: Damit solche Projekte funktionieren können, bedarf es der Netzwerke, einer Moderation der beteiligten Vereine, Initiativen und Einzelakteure sowie der Koordination von Ressourcen. Und hier ist es wichtig, eine hauptamtliche Ansprechperson zu haben. Hauptamtlich Mitarbeitende achten darauf, dass Ehrenamtliche nicht überfordert werden und andererseits auch die Wirksamkeit ihres Engagements spüren. Dazu braucht es oft Zugang zu kommunalen Ressourcen und Strukturen, den (ebenfalls engagierte!) Hauptamtliche in der Regel besser leisten können.

Zu den Aufgaben dieser Hauptamtlichkeit gehört im Saarpfalz-Kreis auch die Vernetzung von Kulturangeboten, von Kulturschaffenden und anderen Akteuren. In der „Möglichmacherei“ geht es darum zu vernetzen, bestehende Ressourcen gewinnbringend einzusetzen, Zugänge zu schaffen, gemeinsam zu planen – alles für ein attraktives landkreisweites Kulturprogramm. Um so ein Programm verlässlich anbieten zu können, braucht es feste Mitarbeiterinnen, die als Ansprechpersonen mit Erfahrung beratend zur Verfügung stehen, Strukturen langfristig aufbauen, Vereine und Initiativen einbeziehen und den Schatz des Zusammenwirkens von Künstlerprofis und zivilgesellschaftlichen Gruppen heben helfen. Dabei werden in einem partizipativen Ansatz alle Akteure früh eingebunden; die Aktionen sollen ihren Möglichkeiten und ihren Wünschen entsprechen.

So entsteht eine Bewegung, die immer mehr nach sich zieht. Ein Selbstläufer sind diese Projekte jedoch nicht, dazu braucht es kommunale Unterstützung und kreative Köpfe.

Erschienen am 02.07.2021

Literatur

Berlin-Institut, Themendossier Demografischer Wandel: https://www.berlin-institut.org/themen/national/demografischer-wandel

Schultz, Oliver: Die Kunst der Demenz, 2017

Projektbeispiel: ImproKS - Improvisationstheater aus Kassel