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Planen als Experiment
Interview mit Anika Neubauer und Thorsten Scheerer

In Seesen wurde ein altes Schulgebäude zu einem modernen Kulturhaus umgebaut. Das Besondere am Jacobson-Haus: Durch die Verzahnung von Fördermitteln konnten besonders viele Menschen in die Planung einbezogen werden. Die Beteiligung verlangsamte den Bauprozess zwar, aber am Ende sorgte sie dafür, dass alte und neue Nutzer des Hauses darin eine Heimat gefunden haben. Wie es für die Planerinnen ist, wenn das Prozesshafte in den Vordergrund tritt, wie man mit einer gewissen Offenheit beim Entwerfen umgeht und wie wichtig die Zutaten Zeit und Ehrlichkeit sind, darüber unterhalten sich Thorsten Scheerer, Kulturamtsleiter in Seesen, und die Architektin und Dozentin Anika Neubauer.

Lieber Herr Scheerer, Sie haben in den vergangenen Jahren das Jacobson-Haus neu erfunden. Es gab einen programmatischen Neustart, gleichzeitig gab es umfangreiche Bauarbeiten. Wurden diese beiden Aspekte in der Planung immer zusammengedacht?
Thorsten Scheerer: Das war keine von Anfang an existierende Strategie, sondern eher ein Prozess mit glücklichen Fügungen. Das Gebäude ist eine ehemalige Schule, die ab 1974 als ein klassisches Bürgerhaus genutzt wurde. Seit damals haben sich viele der Vereine stark verändert. Einer hatte nicht mehr hundert Mitglieder, sondern nur noch sechs ältere Damen, die sich einmal die Woche zum Kaffee trafen. Wir haben also angefangen zu überlegen, wie wir dieses Haus mitten im Zentrum von Seesen beleben können, ohne die alten Nutzer vor die Tür zu setzen. Es war klar, dass das Haus umgebaut werden sollte. Aber wie? Da kamen die Förderung von TRAFO und gleichzeitig Mittel aus der Städtebauförderung des Landes Niedersachsen und damit die Chance, den Umbau des Hauses und seinen inhaltlichen Neustart zusammenzudenken. Und zwar in einem engen Austausch mit den alten und zukünftigen Nutzerinnen.

Wie ist es Ihnen gelungen, die alten Nutzer mit ins Boot zu holen?
Scheerer: Es ist wichtig, ehrlich zu sein und zu sagen: Wir wollen euren Input, aber wir haben natürlich auch ein Ziel. Und das lautet: Weg vom Prinzip „ein Verein, ein Raum“, hin zu einer flexibleren und offeneren Nutzung. Das haben alle verstanden. Es hat aber Zeit gebraucht: für Treffen, die wir organisiert haben, zum Sammeln von Ideen und zum Austausch. Ein wichtiges Signal war, dass die Kulturverwaltung in das Jacobson-Haus gezogen ist, also vor Ort war. Man hat also auch viele informelle Gespräche im Alltag führen können. Die Leute haben gemerkt, dass wir ihre Ideen ernst nehmen und uns bemühen, sie aufzunehmen, wenn sie denn zum ursprünglichen Ziel passen. Wir haben auf diesem Weg niemanden verloren. Auch die sechs älteren Damen sind glücklich. Sie haben den Verein aufgelöst, belasten sich also nicht mehr mit der Vereinsarbeit, sondern sie tun genau das, was sie wollen: Sie kommen einmal die Woche vorbei, kaufen sich beim Konditor gegenüber Kuchen, setzen sich damit in unsere schöne neue Bibliothek und quatschen.

Liebe Frau Neubauer, in Seesen gab es die Möglichkeit, vor die Baupläne eine Phase des Suchens und der Erprobung zu stellen. Bei vielen Bauvorhaben im Kulturbereich ist es in der Regel so, dass die Planungen den späteren Nutzerinnen vorgesetzt werden. Welche Instrumente kennen Sie aus Ihrer beruflichen Praxis, die in architektonischen Planungen ein Element des Experimentierens mit den zukünftigen Nutzern vor Ort ermöglichen können? Wieso ist es wichtig, diese Offenheit im Prozess zu haben?
Anika Neubauer: Das Jacobson-Haus zeigt sehr gut, wie wichtig es ist, zu kommunizieren. Ich als Planerin komme an einen Ort, wo schon Menschen sind, zum Beispiel in Vereinen, und ich muss das Wissen und die Erfahrung dieser Menschen nutzen. Sie sind die Experten. Als Planerin stellt man besser Fragen und präsentiert nicht gleich Antworten. Je mehr Menschen man in Planungsprozessen mitnehmen möchte, umso mehr Zeit braucht man. Eine schnelle Lösung kann sicher auch einmal ihren Charme haben, aber im Beispiel von Seesen hätte sie dazu geführt, dass sich Menschen ausgeschlossen fühlen, weil die Veränderungen über sie hinweggehen.

In Seesen waren Kulturakteure, aber auch Seniorinnenclubs oder Start-ups in den Prozess eingebunden. Wie funktioniert Planung in so einem Prozess?
Scheerer: In Etappen. Fast jedes Jahr hat sich die Planung angepasst. So gab es regelmäßige Stammtische. Dort wurde überlegt, was die nächsten Schritte sein sollen. Wir haben auch Experten eingeladen, Kulturveranstalterinnen, die ihre Expertise eingebracht haben, als es darum ging, was es für einen guten Veranstaltungsraum braucht. Gleichzeitig war es sehr wichtig auch anzufangen, ein Zeichen zu setzen, damit die Leute sehen, dass wir es ernst meinen und es auch umsetzen. Den klassischen Prozess – Planung, Kalkulation, Umbau – haben wir in die Länge gezogen. Deshalb sind wir nach fünf Jahren auch noch nicht ganz fertig.
Neubauer: Am Jacobson-Haus zeigt sich, dass das Machen nicht nur im bauplanerischen Entwerfen liegt, sondern im gemeinsamen Denken. Das ist ein Stück weit immer ein Experiment, das Zufälle miteinschließt, weil man die endgültige Lösung noch nicht kennt. Man gibt den Rahmen vor, der sich nach und nach füllt.
In Seesen wurde vieles mit Mitteln der Beteiligung geschafft und dabei wurden auch große aktuelle Fragen des Bauens vorbildlich gelöst. Die Baubranche trägt mit der Industrie und dem Verkehr besonders viel zur Klimakrise bei. Die Idee war zu sagen: Wir bauen nicht neu, sondern nutzen ein bestehendes Gebäude um, wenn auch der Eingangsbereich noch nicht perfekt ist und sich vieles langsamer entwickelt. Hier wird nichts zerstört, sondern etwas transformiert.

Im Fall von Seesen haben die Mittel von TRAFO eine Phase des gemeinsamen Suchens und Findens bei den Baumaßnahmen möglich gemacht. Wie könnten solche Erprobungs- und Experimentierphasen bei der Entwicklung kulturell genutzter Häuser verstärkt eingeführt werden?
Scheerer: TRAFO war eine besondere Erfahrung, weil die Fördermaßnahme intensiv begleitet wird. Über Jahre. Man fragt sich also über einen längeren Zeitraum, ob das die richtigen Wege waren oder ob wir einen anderen Weg einschlagen müssen, um zum Ziel zu kommen, mehr Leute in das Haus zu holen. Mit TRAFO konnten wir neue Formen der Zusammenarbeit austesten. Verschiedene Vereine haben für Veranstaltungen kooperiert und sich so alle besser kennengelernt. Meine wichtigste Erkenntnis ist, dass die Arbeit mit dem Jacobson-Haus ein permanenter Prozess ist, und das Haus auch in Zukunft eine Struktur braucht, die auf Veränderung reagieren kann.

Ist vielleicht das Planungsrecht für das freie Experimentieren wie in Seesen zu rigide?
Neubauer: Gerade im Kulturbereich sollten die Leute gefragt werden, was sie eigentlich brauchen: Also die Technik für klassische Bühnenabläufe oder eher Multifunktionalität? Daher sollte man als Planerin am besten so früh wie möglich mit den Kulturakteuren in einen Dialog eintreten. Will man die Partizipation vorschalten, um möglichst viele Leute ins Boot zu holen, brauchen sie definitiv mehr Zeit. So etwas wird leider immer noch als das Hobby von Architekten oder Stadtplanerinnen betrachtet, es ist nicht automatisch Teil jedes Prozesses. Das sollte unbedingt stärker implementiert werden.
Scheerer: Ich glaube, die Bauvorschriften sind gar nicht so ein großes Problem, es ist eine Sache der Köpfe. Wir konnten gut vermitteln, dass wir mehr Zeit brauchen und eine offene Planung haben. Und das heißt natürlich, wir konnten nicht ganz genau sagen, was dieser und jener Schritt kosten wird. Trotzdem mussten wir im Budget bleiben, das aber in der Laufzeit erhöht werden konnte. Es braucht Vertrauen der Verantwortlichen in der Verwaltung und der Politik in Lösungen, die man noch nicht ganz genau kennt. Ein Beispiel, das es vielleicht gut erklärt: In den USA wurden auf einem Campus neue Gebäude einer Universität gebaut, aber keine Wege. Die Planer sagten: Wir schauen jetzt erst einmal, welche Wege die Studierenden sich suchen, und auf diesen Trampelpfaden bauen wir dann die Wege.
Neubauer: Seesen weist für mich noch auf einen anderen Punkt hin, in dem man die Baugesetze ändern sollte. Es ist leider so, dass der Neubau oft lukrativer ist als etwas zu sanieren – für die Architektinnen, aber auch die Bauwirtschaft. Mit Blick auf ein ökologischeres und ökonomischeres Bauen sollte es da unbedingt Änderungen geben.

Herr Scheerer und Frau Neubauer, was würden Sie anderen Kultureinrichtungen, die wie das Jacobson-Haus vor Fragen des Wandels, des Sich-Neuerfindens oder gar vor einem von außen, von der Politik beschlossenen Umbau stehen, raten? Was kann man vom Jacobson-Haus lernen?
Scheerer: Ganz banal: Es braucht mehr Zeit, auch beim Personal in der Verwaltung. Es ist eben eine andere Form, die man wählt, als von oben nach unten einen Prozess durchzuziehen und den Leuten ein Haus vorzusetzen. Und dann muss man in der Kommunikation immer ehrlich sein. Neulich kam ein Verein zu mir und der Vorsitzende sagte: Tolle Sache, wir wollen da auch einen Raum nur für uns mieten. Da musste ich ihm sagen: Sorry, das ist nicht die Idee vom Jacobson-Haus, da kommen wir nicht zusammen, aber vielleicht finden wir woanders in der Stadt eine Lösung.
Neubauer: Seesen zeigt, wie man eine Schule aus dem 19. Jahrhundert, die in ihrer Architektur die Bildung feiert, in ein Kulturhaus für das 21. Jahrhundert transformiert. Oder kürzer: Vom Jacobson-Haus kann man lernen, wie man im Alten neue Lösungen entdeckt.