Mit Kultur den sozial-ökologischen Wandel schaffen: Wie kann das gehen? Aufgrund des Strukturwandels durch den Kohleausstieg suchen in Deutschland und Frankreich zahlreiche Bergbauregionen nach einer neuen Identität. Loos-en-Gohelle setzte dabei auf partizipative Kulturarbeit – mit Erfolg. Dr. Julia Plessing und Team haben im Auftrag des deutsch-französischen Zukunftswerks den Wandel dieser Region näher erforscht und konkrete Empfehlungen für Regierungen abgeleitet. In der Studie steckt das besondere Potenzial künstlerischer Prozesse für die Regionalentwicklung, das sich auch in TRAFO beobachten lässt.
Vom Kohlebergbau zur ökologischen Pilotstadt
Als Loos-en-Gohelle seine Kohlebergwerke in den 1980er-Jahren schloss, rutschte die französische Kleinstadt in eine strukturelle Krise. Heute steht die Gemeinde wirtschaftlich besser da als ihre Nachbarorte: weniger Arbeitslose, weniger Wohnungsleerstand. Gleichzeitig ist die Stadt zur Pilotstadt der nachhaltigen Entwicklung geworden, mit Photovoltaikanlagen auf Dächern, ökologischem Bauen und nachhaltigen Mobilitätsangeboten. Wir vom Deutsch-Französischen Zukunftswerk, einem Projekt des RIFS, haben uns gefragt: Wie hat Loos-en-Gohelle das geschafft? Wie hat sich die Stadt von einer schwarzen (Kohle) zur grünen (nachhaltigen) Stadt entwickelt?
Beteiligung und gemeinsames Erzählen
Inmitten der Krise setzte Loos-en-Gohelle partizipative Kulturarbeit auf die politische Agenda. Auf dem jährlich stattfindenden Festival Les Gohélliades konnten Einwohner*innen ihre Geschichten erzählen, um die gemeinsame Bergbauvergangenheit trauern, gemeinsam in die Zukunft blicken. Das „Erzählen“ entwickelte sich zu einer Art Befreiungsakt, wie es uns Geoffrey Mathon, stellvertretender Bürgermeister von Loos-en-Gohelle, treffend beschreibt:
Seither gestalten partizipative Kulturformate die lokale Politik mit. Gemeinsam mit der Bevölkerung entwickelt die Gemeinde nachhaltige Projekte, vom biologischen Gemüseanbau gbis zur Installation von Photovoltaikanlagen.
Kulturelle Teilhabe ist ein geeigneter Weg, ortsbezogene Stadtentwicklung umzusetzen, auch wenn ihre Methoden wie das Erzählen von Geschichten untypisch erscheinen.
Die Bedeutung von partizipativer Kulturarbeit wissenschaftlich untersucht
Unsere vom Zukunftswerk beauftragte Studie „Loos-en-Gohelle und sein kulturelles Ökosystem“ vergleicht den Ansatz der Stadt mit dem von zwei benachbarten Kommunen. Denn Kulturarbeit ist seit den 1990er-Jahren eine offizielle Strategie, die die gesamte Bergbauregion Hauts-de-France verfolgt.
Wir wollten wissen: Wie unterscheidet sich die kommunale Kulturarbeit in Loos-en-Gohelle von Kulturpolitik andernorts? Inwieweit hat sie einen Transformationsprozess angestoßen, der sich von der Entwicklung anderer Städte und Gemeinden im nordfranzösischen Kohlerevier unterscheidet? Und wie wird diese Kulturarbeit von der lokalen Bevölkerung wahrgenommen?
Die folgenden Auszüge aus der Studie veranschaulichen die besondere kulturelle Dynamik in Loos-en-Gohelle und wie die Haltung der Kommune dazu beigetragen hat:
„Die Looser Kulturpolitik und ihre Einbettung in ein ganzheitliches Transformationsprojekt weisen Besonderheiten auf und haben die sozioökonomische Situation der Stadt positiv beeinflusst. In Loos-en-Gohelle werden Kulturaktivitäten nicht nur durch die zuständigen Fachbereiche der Verwaltung organisiert, sondern gehen von einer Vielzahl von Akteur:innen aus. Zudem werden sie als Werkzeug zur (Re)Konstruktion von (sozialen und räumlichen) Bindungen konzipiert (Hennion, 2004). Das soll heißen, die geschaffenen und erlebten kulturellen Erfahrungen fördern neue soziale Interaktionen und stellen überdies für die Einwohner:innen einen emotionalen Bezug zum eigenen räumlichen Umfeld her."Florentin, D., Veys, M., Robic, N., & Faltermeier, K. (2023). Loos-en-Gohelle und sein kulturelles Ökosystem: Partizipative Kulturarbeit als Grundlage für raum-bezogene Identifikation und gesellschaftlichen Zusammenhalt. RIFS Study, November 2023, S. 8.1
„Die Raumentwicklungsstrategie „Transformation durch Kultur“, wie sie nach dem Kohleausstieg im gesamten Nordfranzösischen Kohlerevier eingesetzt wurde, zielte vor allem auf eine Imageveränderung des Gebiets nach außen hin ab. […] Angesichts der sozialen und wirtschaftlichen Zäsur, die das Ende der Kohle für die betroffene Gegend bedeutete, setzte Loos-en-Gohelle auf lokale partizipative Kulturarbeit als Instrument der Trauerarbeit und der Emanzipation. Der politische Wille und das außergewöhnliche Engagement der Lokalregierung eröffneten Möglichkeiten zur Teilhabe, die wiederum, so unsere These, zur Wiederaneignung der Kulturpolitik durch die Bewohner:innen und zur (Re)Konstruktion von raumbezogenen Bindungen beitrugen."Ebd., S. 27.2
Die Studie zeigt vor allem zwei Punkte auf: Die Einbindung der Bevölkerung in die Kulturarbeit kann eine starke transformative Kraft entfalten. Aber auch: Kulturelle Teilhabe muss ständig neu erfunden werden, damit der Wandel in Loos-en-Gohelle nicht an Dynamik verliert.
Studie: Loos-en-Gohelle und sein kulturelles Ökosystem→
Partizipative Kulturarbeit braucht politische Unterstützung
Als Deutsch-Französisches Zukunftswerk haben wir die Aufgabe, für die Regierungen Frankreichs und Deutschlands sowie für die lokale Politik beider Länder konkrete Aktionsvorschläge zu entwickeln, um die sozial-ökologische Transformation auf kommunaler Ebene zu beschleunigen. Als Basis dienen uns dabei Erfahrungen wie die von Loos-en-Gohelle. 2021 und 2022 haben wir die nordfranzösische Gemeinde mit deutschen Kommunen, die ebenso mit dem Strukturwandel zu kämpfen haben – darunter zum Beispiel Zeitz in Sachsen-Anhalt – in einen Erfahrungsaustausch gebracht und in interdisziplinären Workshops mit weiteren Expertinnen und Experten Handlungsempfehlungen entwickelt.
So entstand als eine von sieben Empfehlungen die Aufforderung an nationale Regierungen, lokale partizipative Kulturarbeit als zentralen Hebel für sozio-ökologische Transformation zu begreifen und zu stärken. Denn nicht alle Kommunen können dies, so wie in Loos-en-Gohelle geschehen, aus eigener Kraft stemmen. Eine Beratungsstelle zum Nutzen partizipativer Kulturarbeit und zur Beratung von interessierten Kommunen könnte hier Abhilfe schaffen.
Empfehlungen: Sozial-ökologische Transformation beschleunigen→
Dieser Beitrag ist erstmals am 01.12.2023 auf den Seiten des RIFS Potsdam erschienen und in leicht veränderter Form im Rahmen des TRAFO-Newsletters am 06.06.2024.