Themen

Kollektive Programmarbeit im Oderbruch Museum Altranft
Aus der Praxis

Grimms „Kluge Bauerstocher“ als Beitrag zur Agrardebatte, eine Garten und eine Kochwerkstatt, ein deutsch-polnisches Erntefest, eine Murmelbahn – was hat all das mit Museum zu tun? In Altranft sehr viel – hier hat sich das Oderbruch Museum zu einer „Werkstatt für ländliche Kultur“ transformiert. Gearbeitet wird gemeinsam mit denjenigen, die das Oderbruch und seine Landschaft prägen. Eine zentrale Säule des Museumsprogramms sind Jahresthemen, mit denen sich nicht nur eine inhaltliche Schwerpunktsetzung, sondern vor allem auch ein Arbeitsprinzip der Mitgestaltung verbindet.

Die Ausgangslage

Eigentlich war es schon entschieden: Das Brandenburgische Freilichtmuseum Altranft sollte geschlossen werden. Gründe waren rückläufge Besucherzahlen, Finanzierungssorgen beim Landkreis und ein in die Jahre gekommenes Profil des Museums. Die Schließung hätte bedeutet, dass die Region ihr größtes Museum verliert und damit einen Ort, der vielen Bewohner*innen wichtig war – einen Ort der Identifikation mit der Geschichte und mit ihrer Region, dem Oderbruch. Deshalb wurde 2015 im Rahmen von TRAFO ein Neubeginn gewagt, bei dem die Öffnung des Museums zur Region im Hier und Jetzt und die Einbeziehung der Expertise der Menschen vor Ort eine zentrale Rolle spielten.

Direkt an der polnischen Grenze gelegen, ist das Oderbruch eine vom Wasser und Ackerbau geprägte Kulturlandschaft. „Die Menschen haben hier – im Gegensatz zu anderen märkischen Landschaften – schon seit Mitte des 18. Jahrhunderts relativ frei gelebt und gewirtschaftet. So etwas prägt die Zivilgesellschaft. Wir trafen hier auf eine hohe Bereitschaft, sich einzubringen, Verantwortung zu übernehmen,“,erinnert sich Kenneth Anders, Programmleiter des Museums.

Kenneth Anders und sein Kollege Lars Fischer waren mit ihrem Büro für Landschaftskommunikation bereits seit 2003 im Oderbruch aktiv. Im Rahmen des „Oderbruchpavillons“ sammelten sie Beiträge zur regionalen Selbstbeschreibung und knüpften so Beziehungen zu Menschen in der Region, vor allem in die Landwirtschaft, in die Kunstszene und in die Kommunalpolitik. 2015 erhielten sie den Auftrag, die Neukonzeption des Freilichtmuseums Altranft zu erstellen. Die Kulturstiftung des Bundes, der Landkreis Märkisch-Oderland und das Kulturministerium Brandenburgs förderten die Konzeptionsphase zu gleichen Teilen. Neben Akteur*innen der Region und aus Brandenburg, wie zum Beispiel dem Museumsverband Brandenburg e. V., Vertreter*innen des Landratsamtes und des Kreistags waren auch eine Reihe von Akteur*innen aus lokalen Vereinen, Heimatstuben und Dorfmuseen sowie ca. 50 Einwohner*innen des Ortes Altranft in die Erarbeitung des Konzepts eingebunden. Viele von ihnen kannten Kenneth Anders und Lars Fischer schon aus früherer Zusammenarbeit.

Die Transformation der Kultureinrichtung vom Freileichtmuseum hin zur „Werkstatt für ländliche Kultur“, die sich als Ort der „Selbstbeschreibung des ländlichen Lebens“ und der Auseinandersetzung mit aktuellen Themen in der Region versteht, hatte nicht nur Befürworter*innen. Zu Beginn war das Museumsteam auch mit Skepsis und Ablehnung konfrontiert. „Die Hauptkontroverse bestand darin, dass es kein Freilichtmuseum mehr sein würde. Das hat vielen nicht gefallen, vor allem im Dorf. Wer mit einem Museum einen konzeptionellen und personellen Neuanfang wagt, muss mit sozialen und psychischen Widerständen rechnen. In unserem Falle reichten diese von wütenden Leserbriefen an die lokale Presse und an die fördernden Institutionen bis zu skeptischen Bewohnern unseres Museumsdorfes“, beschreibt Kenneth Anders die Ausgangslage.

Dass sich aus Ablehnung Vertrauen und aus Skeptiker*innen Verbündete entwickelten, ist unter anderem auch dem Arbeitsprinzip der Jahresthemen zu verdanken, worauf das Museum von Beginn an setzte.

Vom Thema zur kollektiven Wissensproduktion

„Unser Prinzip ist eine kollektive Wissensproduktion durch Landschaftskommunikation. Mein Eindruck ist, dass die Klugheit und Erfahrung der Leute ein riesiges Potenzial für die Gesellschaft sind, das bisher zu wenig genutzt wird,“ erläutert Kenneth Anders den Ansatz der Jahresthemen.

„Unser Kerngedanke ist, dass die Menschen die besten Experten ihrer Region sind und man ihr Wissen und ihr Urteilsvermögen braucht, wenn man etwas in der Regionalentwicklung erreichen möchte.“
Kenneth Anders, Programmleiter Oderbruch Museum Altranft

Die Jahresthemen werden jeweils mit maximal einem Jahr Vorlauf erarbeitet, größtenteils aber in Echtzeit produziert. Sie bilden – so die Museumsmacher* innen – „den Markenkern“ des Programms: „Ethnologische Befragung, künstlerische Verarbeitung, wissenschaftliche Recherche und direkte Kommunikation fließen hier zusammen zu einem facettenreichen Programm, an dem die Bewohnerinnen und Bewohner mitwirken können. Die Jahresthemen ermöglichen es Akteur*innen, sich partnerschaftlich den für das Museum relevanten Themen und Fragestellungen der Region zu stellen und Entwicklungen durch öffentliche gemeinsame Beschäftigung mit den Themen voranzutreiben“, heißt es im Konzeptpapier des Museums.

Dabei sind die Jahresthemen eng mit der Region und ihrer (Kultur-)Landschaft verknüpft und bilden einen möglichst breiten Rahmen – gestartet wurde 2016 mit dem Thema Handwerk, es folgten Wasser (2017), Landwirtschaft (2018), Baukultur (2019), Menschen im Oderbruch (2020), Eigensinn der Region (2021), Natur (2022) und Jugend (2023). Für das Jahr 2024 ist das Thema „Kirche“ vorgesehen. Den Jahresthemen kommt dabei auch eine Querschnittsfunktion für das regionale Netzwerk zu, mit dem das Museum arbeitet: das „Netzwerk Kulturerbe Oderbruch“.

Was zum Jahresthema wird, entscheidet der Programmbeirat – seine Mitglieder sind Vertreter*innen des Brandenburgischen Kulturministeriums, des Landkreises und ausgewählter Gemeinden, der Sparkasse Märkisch-Oderland, der IHK sowie der Kulturstiftung des Bundes. Hauptkriterium für die Auswahl ist die Relevanz des Themas für die Region.

Steht das Thema fest, beginnt das, was in der Museumskonzeption als Arbeitsprinzip der „ethnologischen Befragung“ bezeichnet wird. Befragt werden 20 bis 30 Menschen aus der Region als Expert*innen zu persönlichen Erfahrungen, beruflichen Expertisen und dem Gegenwartsbezug des Themas. Beim Jahresthema „Wasser“ sprachen die Museumsleute beispielsweise ausführlich mit Gewässerbauern, Zeitzeug*innen des 1947er Hochwassers und Fischern. Ein wichtiger Partner beim Thema Wasser war der Gewässer- und Deichverband Oderbruch. Für die Recherche zum Jahresthema „Baukultur“ wurden unter anderem Handwerker*innen und Hausbesitzer*innen interviewt. Die Gespräche werden auch fotografisch dokumentiert – so werden nicht nur die Erfahrungen, sondern auch die Gesichter aus dem Oderbruch festgehalten.

„Der Raum lässt sich nicht aus einer Perspektive befriedigend beschreiben. Und deswegen fragen wir beim Jahresthema Landwirtschaft sowohl große Marktfruchtbauern als auch kleine Direktvermarkter. Oder Biobauern und konventionelle Betriebe und so weiter. Milchviehproduzenten und Feldbauern. Der Versuch ist immer, die Streuung möglichst groß zu machen.“
Kenneth Anders, Museumsleiter Oderbruch Museum Altranft

Dabei hört das Museumsteam möglichst unvoreingenommen zu. Zur Eröffnung einer Ausstellung im Themenjahr Landwirtschaft erläuterte der Museumsleiter beispielweise: „Die etablierten Begriffe ersticken das Fragen. Alles scheint mit Bezeichnungen wie ‚industriell, konventionell, ökologisch, Massentierhaltung und Pestizid‘ geklärt zu sein. Aber vor der Wirklichkeit versagen solche Zuschreibungen."

Durch die Gespräche entstehen kollektiv produzierte Fragestellungen für Ausstellungen, Filmprojekte, Theaterprojekte oder Bildungsformate. Das konkrete Programm erarbeitet das Museumsteam dann zu großen Teilen wieder gemein.

In den letzten Jahren hat sich ein vielfältiges regionales Akteursfeld entwickelt, von den Freiwilligen Feuerwehren über die Hochschule für Nachhaltige Entwicklung bis zur lokalen Keramikkünstlerin. Um die Orte und ihre Akteur*innen in der Region an der Gestaltung der Jahresthemen zu beteiligen, werden zudem Partnerprojekte in der Region umgesetzt. Ein wichtiger Meilenstein für diese Partnerprojekte sind die sogenannten „Ideenschmieden“, zu denen das Museum vor allem die Akteur*innen der Kulturerbe-Orte einlädt, verbunden mit konkreten Fragestellungen.

Für das Jahresthema „Jugend“ lauteten die Leitfragen für die rund 30 Teilnehmenden der Ideenschmiede beispielweise: „Was heißt es, im Oderbruch aufzuwachsen? Wie haben sich Kindheit und Jugend in den zurückliegenden Jahrzehnten verändert? Musik, Kunst, Mode, Tanzen, Sport treiben: Was ist von Jugendlichen zu hören und zu sehen. Was nervt sie? Wie wollen sie leben? Weggehen, bleiben, wiederkommen?“ Aus den Ideen entstehen im Nachgang Projektskizzen, die mit Finanzierungsplan eingereicht werden und über deren Umsetzung schließlich der Beirat entscheidet.

Von der Idee zur künstlerischen Umsetzung

Alljährlich entsteht so ein Programm aus Workshops, Lesungen, Ausstellungen, Garten- und Kochwerkstätten, Theaterproduktionen, Kunstprojekten, Gesprächsformaten und Mitmachaktionen. In die Umsetzung der Ideen ist ein mittlerweile großes Netzwerk von Künstler*innen und Kulturschaffenden mit eingebunden – die meisten davon aus der Region. Es ist ein Miteinander auf Augenhöhe zwischen Ideen der Bürger*innen und Künstler*innen, denn, so Kenneth Anders: „Das trifft beides aufeinander. Und beides ist genau gleichwertig zu sehen und auf Augenhöhe zu bringen. Und das bedeutet, die Menschen im Oderbruch müssen akzeptieren, dass ihnen die Künstler was die Gestaltung der Inhalte anbelangt ein Stück voraushaben. Und die Künstler aber wiederum müssen die Bereitschaft einbringen, zu sagen, das ist das Material, das sind die Inhalte, die es zu verarbeiten gilt.“

Exemplarisch für das Zusammenwirken der Befragungen der regionalen Expert*innen und der künstlerischen Umsetzung der Inhalte in den einzelnen Themenjahren ist das Theaterstück „Die kluge Bauerntochter wird noch gebraucht“. Das Museum zeigte im Themenjahr Landwirtschaft eine zeitgenössische Inszenierung des Grimm’schen Märchens als Beitrag zur Agrardebatte. Das Theaterstück wurde mit großem Erfolg auch elfmal in anderen Regionen aufgeführt.

„Alles dreht sich um das Dilemma, in dem der konventionell wirtschaftende Landwirt steckt: zwischen den Ansprüchen der Gesellschaft, den Gegebenheiten von Agrarpolitik und Weltmarkt und seinen ganz konkreten Produktionsbedingungen zerrieben zu werden“, schrieb dazu eine Journalistin in der Bauernzeitung. „Dass er in dem Stück weder angegriffen noch lächerlich gemacht, sondern ernst genommen wird, muss leider in Zeiten der Landwirtsschelte besonders betont werden. Bisher habe ich Theaterstücke mit landwirtschaftlicher Thematik nur bei der Landjugend auf der Grünen Woche gesehen, wenn Laiendarsteller vor den eigenen Leuten agieren. In Altranft jedoch waren Profis am Werk – von der Text- bis zur Bühnenarbeit. Und sie spielten vor einem landwirtschaftlich interessierten, jedoch nicht notwendigerweise involvierten Publikum. Das hat es so noch nicht gegeben.“

Die Jahresthemen spiegeln sich nicht nur in temporären Veranstaltungen oder Sonderausstellungen. Stück für Stück wächst mit den erarbeiteten Inhalten auch die Dauerausstellung, was den Ausstellungsrundgang am Museumsstandort Altranft aufwertet. Zum Lieblingsexponat vieler Besucher*innen ist beispielsweise mittlerweile die Murmelbahn avanciert, die das Fließsystem des Wassers im Oderbruch mit Glasmurmeln sinnlich erlebbar macht. Entwickelt wurde es im Rahmen des Themenjahrs „Wasser“: Gemeinsam mit einer Expertin vom Gewässer- und Deichverband wurde das Terrain abgesteckt, das die Zusammenhänge des Fließsystems deutlich macht. Für die Konstruktion der Murmelbahn wurde ein Zimmermann aus der Region gewonnen.

Die anfängliche Skepsis im Dorf und in der Region gegenüber der Transformation des Museums – „Waren die Leute, die jetzt hier zum Zuge kamen, nicht viel zu intellektuell, zu sehr mit Künstlern unterwegs, zu abgehoben?“ – hat sich mittlerweile in Vertrauen und Respekt gewandelt. „Heute feiert das Museum gemeinsam mit dem Altranfter Traditionsverein das deutsch-polnische Erntedankfest, arbeitet regelmäßig mit den Ortschronisten zusammen und erlebt viele Momente des Jahresprogramms gemeinsam mit interessierten Dorfbewohnern – mit dem Handarbeitszirkel oder dem Kindergarten. „Die Anspannung ist weitgehend gewichen“, heißt es bereits im Werkstattbericht 2019 des Museums.

Von der Museumsarbeit zur Regionalentwicklung

Die im Rahmen des Transformationsprozesses entwickelten Arbeitsweisen und die zugängliche, umfangreiche Begleitkommunikation – vom Museumsblog, über Podcasts bis hin zum Werkstattbuch – schaffen nicht nur bei den Beteiligten im Oderbruch ein tieferes Verständnis. Es erregt auch über die Region hinaus Aufmerksamkeit und Besucherinteresse. „Ein tolles interessantes Museum, bei dem sich wirklich jemand Gedanken gemacht hat, wie man den Menschen Wissen näherbringen kann“, heißt es beispielweise in einer Google-Rezension. „Vieles zum Anfassen, vieles versteckt, viel Witz und Charme. Dort wurden alle Register gezogen. Wer hat schon einmal gesehen, wie man eine Landkarte mit einem geknoteten Netz dreidimensional darstellen kann? Hier geht das. Das Oderbruch, der alte und der neue Flußlauf in Form einer funktionierenden Murmelbahn dargestellt: Wahnsinn!“

Mittlerweile wurde das Museum u. a. mit dem Initiativpreis der Ostdeutschen Sparkassen Stiftung (2021) ausgezeichnet. Die Jahresthemen werden seit dem Auslaufen der TRAFO-Förderung über Landesmittel finanziert, von 2022 bis 2025 über das Förderprogramm „Regionale kulturelle Ankerpunkte im ländlichen Raum“. Museumsleiter Kenneth Anders sieht in der Arbeitsweise der Jahresthemen großes Potenzial, das über die Museumsarbeit hinausweist:

„Da wir immer sehr unterschiedliche Menschen befragen, ist von vornherein eine Vielstimmigkeit gegeben – und die in letzter Zeit oftmals vermisste Ambiguität stellt sich sofort wieder her. Und dennoch schafft man eine Trittsicherheit. Das ist ein Reichtum – je mehr man ihn gemeinsam aufschließt, umso klüger wird man. Ich bin davon überzeugt, dass diese Arbeitsweise für das Oderbruch auch in den nächsten Jahren von Nutzen sein kann, als ideelle Form der Regionalentwicklung. Und ich glaube auch, dass sie über diese Region hinausweist. Unsere Diskurse bilden Korridore des zulässigen oder brauchbaren Wissens und verwerfen, was auf diesen Korridoren keinen Platz hat. Das ist eine irrsinnige Verschwendung. Jeder Mensch weiß etwas und hat einzigartige Erfahrungen, die etwas zum Gelingen von Gesellschaft beitragen können. Und wenn diese Erfahrungen von den Expertinnen und ihren Institutionen verschmäht werden, dann können sich doch die Künste ihrer annehmen. Hier liegt eine große Chance, Kunst wieder zu einer zentralen Form der gesellschaftlichen Arbeit zu machen.“Link zum vollständigen Interview mit Kenneth Anders s.u. in der Infobox.1

Weiterführendes:

Transformationskonzept: Die Jahresthemen waren von Beginn an ein wichtiger Bestandteil der Museumsneukonzeption. Das gesamte Konzept für die „Transformation des Brandenburgischen Freilichtmuseums Altranft“ aus dem Jahr 2015, in dem auch das Prinzip der Jahresthemen erläutert wird, ist als PDF-Download auf der Museumswebsite verfügbar.

Jahresthemen im Detail: Alle Jahresprogramme und Werkstattberichte mit ausführlichen Beschreibungen aller Aktivitäten stehen im Downloadbereich des Museums Oderbruch zur Verfügung. Zusätzlich entstehen zu den Jahresthemen aufwendig gestaltete Werkstattbücher mit Interviews, Fotobeiträgen und Essays:
www.oderbruchmuseum.de/info-material/
www.auflandverlag.de/werkstattbuecher/

Interview mit Kenneth Anders: Ein Plädoyer für starke Nerven
Good Practice: News Blog Oderbruchmuseum
Die Kulturerbe-Orte im Oderbruch: www.kulturerbe-oderbruch.de/