Machen statt quatschen – bei den Dorfresidenzen, die das Kulturlandbüro in der vorpommerschen Region Uecker-Randow initiiert, arbeiten Künstler*innen gemeinsam mit Dorfbewohner*innen über ein halbes Jahr lang an einem künstlerischen Projekt. Dabei entstehen nicht nur Tanzstücke, Freiluftausstellungen, Filme oder Bücher – vor allem entstehen Gemeinschaften. Was Partizipation als künstlerische Strategie in ländlichen Gemeinden bewegen kann, was das von den Beteiligten erfordert und welche Rahmenbedingungen es braucht, hat das Kulturlandbüro mittlerweile in elf Dörfern und Kleinstädten erprobt.
Die Ausgangslage
Das sechsköpfige Team des Kulturlandbüros ist viel unterwegs. Denn es begleitet, berät und vernetzt Gemeinden, Kulturinitiativen und Künstler*innen in Deutschlands längstem Landkreis, in VorpommernGreifswald. Elf Autokennzeichen gibt es im Kreisgebiet. Das Kürzel UER steht für den südlichen Teil des Landkreises, die Region Uecker-Randow, und kennzeichnet auch das Aktionsfeld des Kulturlandbüros. Hier befinden sich zwischen den Flüssen Uecker und Randow, unweit der polnischen Grenze, insgesamt 48 Gemeinden, viele kleine Dörfer und einige Kleinstädte wie Strasburg oder Pasewalk. Die Herausforderungen des Strukturwandels sind allgegenwärtig.
Seit 2020 arbeitet das Kulturlandbüro als „mobile Beratungs-, Kommunikations- und Netzwerkstelle für Kultur“ von Bröllin aus und versteht sich als „Ermöglicher und Schnittstelle zwischen der Landkreisverwaltung, den Kommunen, den Bürger*innen sowie den Künstler*innen“, wie es auf der Webseite des Büros heißt. Entstanden ist es im Rahmen des TRAFO-Programms auf Initiative des schloss bröllin e. V., der im Ort bereits ein internationales Produktions- und Residenzzentrum für zeitgenössischen Tanz, Theater und Musik betreibt. Ein Format, welches das Kulturlandbüro entwickelt und mittlerweile in elf Gemeinden initiiert hat, sind die Dorfresidenzen. Kunst und Kultur als Antriebskraft für Vernetzung und die Stärkung von Gemeinschaft zu nutzen – das ist das Hauptanliegen der Residenzprojekte, die sich maßgeblich von klassischen „Artist-in-Residence-Programmen“ unterscheiden.
Neben den Kulturlandschauen sind die Dorfresidenzen das wichtigste Instrument des Kulturlandbüros, um in den beteiligten Gemeinden einen Perspektivwechsel zu erwirken, Selbstwirksamkeit erfahrbar zu machen und im besten Fall die vorhandenen Potenziale der jeweiligen Gemeinschaften vor Ort langfristig zu aktivieren.
Das Format: „Machen statt Quatschen.“
Und dieses Zeigen funktioniert über das gemeinsame Gestalten eines Kunstprojektes zusammen mit professionellen Künstler*innen, die bis zu einem halben Jahr lang vor Ort leben und mit den Menschen, die sie im Dorf oder in der Kleinstadt dafür gewinnen können, eine Idee umsetzen. Wichtig ist dabei, dass sich sowohl die Gemeinden, als auch die Künstler*innen für das Residenzprogramm bewerben. Ein Prozess, der mehrere Monate dauert. In den drei Jahren seit Beginn der Dorfresidenzen haben sich bereits 16 Gemeinden um eine Dorfresidenz beworben. Die Lenkungsgruppe 36 des TRAFO-Projekts wählt aus diesen Bewerbungen die Gemeinden aus, die Mittel für eine Dorfresidenz bekommen. Die ausgewählten Gemeinden entscheiden dann selbst, welche Künstler*innen sie in ihre Dörfer oder Kleinstädte einladen, um dort zu leben und zu arbeiten.
Um die 150 Künstler*innen haben sich bislang auf die Ausschreibungen des Kulturlandbüros beworben, die über Künstlerverbände und weitere Netzwerke geteilt werden. Aus diesen Bewerbungen hat eine Fachjury einen Künstler*innen-Pool aufgebaut. Wichtigstes Auswahlkriterium für die Jury ist die Bereitschaft und Erfahrung der Künstler*innen, sich auf partizipative Prozesse einzulassen. Das Kulturlandbüro trifft für jede Dorfresidenz eine Vorauswahl und stellt den ausgewählten Dörfern und Kleinstädten jeweils drei Künstler*innen vor. Die eigens geschaffene Dorf-Jury trifft dann die Entscheidung, welche Person ihr künstlerisches Projekt im Ort umsetzen darf.
Eine Frage der Haltung
„Künstler*innen, die hierherkommen, müssen ja erst mal das Dorf verstehen, bevor sie dann dort ihr Projekt wirklich umsetzen können“, erläutert Josefa Baum, die im Kulturlandbüro die Dorfresidenzen betreut.
Diese Offenheit muss man aushalten können – sowohl auf Seiten der Künstler*innen als auch auf Seiten des Dorfes. Julia Novacek, Filmemacherin und Jurymitglied für die Dorfresidenzen, beschreibt die erforderliche Arbeitshaltung bei den Künstler*innen so: „Auf der einen Seite ist es gut, einen Plan zu haben, und gleichzeitig muss man bereit sein, den am zweiten Tag über den Haufen zu werfen und sich ein neues Konzept zu überlegen.“ Micha Kranixfeld, der sowohl als Künstler als auch als Forscher bereits zahlreiche partizipative Kunstprojekte begleitet hat, ergänzt: „In den Bei einer Kunstaktion schneidet die Dorfresidenz-Künstlerin barbara caveng eines der 165 von Pasewalker Bürger*innen gebackenen Brote. 37 Aus der Praxis Dorfresidenzen haben Künstler*innen komplexe Aufgaben: Sie müssen nicht nur gute Kunst machen, sondern sie müssen auch gut zuhören können, sozial sensibel sein, sie müssen ganz schnell verstehen wie so ein Ort tickt, wie eine lokale Gemeinschaft funktioniert, sie müssen auch politisch agieren können und taktisch vorgehen – das sind ganz viele Anforderungen an Künstler*innen. Dazu kommt, dass sie nicht an dem Ort sind, wo sie sonst ihr ganzes Netzwerk haben.“
Vier bis sechs Monate leben und arbeiten die Künstler*innen vor Ort. Pro Monat erhalten sie ein Honorar von 2500€, außerdem werden ihnen 5000€ Sachkosten zur Umsetzung ihres Projekts zur Verfügung gestellt. Die Gemeinde stellt Unterkunft, Arbeits- und Veranstaltungsräume. Am Ende der Dorfresidenz steht eine Abschlusspräsentation. Welchen Charakter diese Veranstaltung hat, ob sie beispielsweise im kleinen Rahmen stattfindet oder öffentlich ist, entscheiden Künstler*innen und Bewohner*innen gemeinsam im Prozess. Bis es soweit ist, gehen die Beteiligten einen intensiven Weg miteinander.
Gerade das Ankommen und Einfinden in einen Ort, in dem man niemanden kennt, ist für die Künstler*innen eine Herausforderung, aber auch der Umgang mit den verschiedenen Erwartungshaltungen ist anspruchsvoll. Mathis Dieckmann, der im Rahmen seiner Residenzen in Liepgarten eine Freiluftausstellung installiert und einen künstlerischen Osterspaziergang inszeniert hat, wurde von den Dorfbewohner*innen recht schnell mit Fragen nach dem Ergebnis und dem Mehrwert konfrontiert.
Die Filmemacherin Sabrina Dittus, die als eine der ersten Kulturlandbüro-Residenzler*innen in Strasburg (Um.) lebte, erinnerte sich an die Schwierigkeit, überhaupt mit Menschen vor Ort ins Gespräch zu kommen: „Ich war zwei Monate lang deprimiert und ziemlich allein.“ Auch Chris Strauss, die ihre Residenz unter den Titel „WirWerk“ gestellt hat, kannte niemanden in Boock. „Ich habe eine große Neugier darauf, was mir begegnen wird“, formulierte die Künstlerin im Vorfeld ihrer Residenzzeit und veranstaltete zum Start einen gemeinsamen Kochabend im Dorf. „Wir als Kulturlandbüro greifen bewusst nicht ein“, erläutert Leiter David Adler. „Die Künstler*innen müssen auch eine gewisse Situation vor Ort aushalten, sich selbst Wege suchen, um mit den Menschen in Kontakt zu kommen.“ Aus den Erfahrungen der ersten Residenzen hat das Kulturlandbüro aber einen zweiwöchentlichen Termin zum Austausch mit den Künstler*innen etabliert, um sie auf ihrem Weg zu begleiten. Das Kulturlandbüro klärt zudem in der Vorbereitungsphase, welche Rolle und Aufgaben die Künstler*innen vor Ort selbst übernehmen wollen, beziehungsweise wieviel Unterstützung sie sich wünschen.
Der preisgekrönten Performancekünstlerin barbara caveng war es wichtig, bis hin zur Anfrage der Genehmigung und der Ankündigung ihrer Kunstaktion im Amtsblatt in Pasewalk alles selbst und direkt mit den Verantwortlichen auszuhandeln. Ihre Abschlussaktion, bei der im Sommer 2022 unter anderem auch eine Skulptur aus 165 selbstgebackenen Broten entstand, hat viel Neugier, Irritation und im Nachgang vor allem gemeinschaftliche Aktivität ausgelöst. Eine Gruppe von Pasewalker*innen, die während der Residenzlaufzeit auf Initiative der Künstlerin in einem leerstehenden Ladenlokal zusammenkam, hat schließlich den Verein „Pasewalk aktiv“ gegründet. Der Verein betreibt nun das Café Luna und lädt regelmäßig zu Lesungen, Flohmärkten und Erzählcafés ein.
Das Format des Erzählcafés hat auch die Künstlerin Sabrina Dittus genutzt, um während ihrer Residenz 2021/22 ins Gespräch mit den Strasburger*innen zu kommen. Gemeinsam an wechselnden Orten, bei Kaffee und Kuchen wurden Erinnerungen zu unterschiedlichen Themen ausgetauscht. Sabrina Dittus fand darüber nicht nur viele der Protagonist*innen für ihren Film „Wir müssen wieder mehr tanzen – Von Verlust und Verbindung in Strasburg (Um.)“. Über das Erzählcafé fanden auch Strasburger*innen zueinander. Mittlerweile führen sie die Erzählcafés in Eigenregie fort – in der Regel trifft man sich jetzt alle acht Wochen. „Die Arbeit am Film und mit Sabrina hat mir Selbstbewusstsein gegeben, zu sprechen“, erinnert sich die Strasburgerin Karla Müller, die nun federführend die Erzählcafés initiiert.
Auch in Rothenklempenow, wo die Autorin Gertje Graef im Rahmen ihrer Dorfresidenz das Leben von 24 Bewohner*innen in Form von literarischen Porträts festgehalten hat, sind die neugeknüpften Verbindungen zwischen den Beteiligten auch über die Residenz hinaus erhalten geblieben. Sie haben zu neuen informellen Netzwerken und gemeinsamen kulturellen Aktivitäten wie einem Barockfest im Ort geführt.
Mehr als 100 Tänzer*innen aus den vier Kommunen Glasow, Grambow, Krackow und Penkun brachten im Juni 2023 vor mehr als 1.000 Gästen eine große Tanzperformance auf die Bühne. Die Künstlerinnen Be van Vark, Anja Schäplitz und Bärbel Jahn vom Verein „Tänzer* ohne Grenzen“ haben das Projekt im Rahmen ihrer Dorfresidenz durchgeführt. Die vier Gemeinden hatten sich gemeinsam für eine Residenz beworben. Zehn Tanzgruppen – von Kitakindern bis hin zur Seniorinnen-Sportgruppe – erarbeiteten innerhalb von sechs Monaten in Ostoja (Gemeinde Kołbaskowo), Gryfino, Penkun, Grambow, Krackow, Wallmow und Tantow gemeinsam mit den Künstlerinnen die Einzel- und Gruppen-Szenen. Die Kostüme wurden in einem Nähcafé selbst gestaltet.
Unter dem Titel „Das Fest – Tanz auf dem Plateau“ kam das Stück schließlich zum ersten Mal vor einem begeisterten Publikum zur Aufführung. Unterstützt wurde die Inszenierung auch durch Auftritte von anderen örtlichen Vereinen wie den Anglern oder Oldtimer-Freunden. „Die Parkkappelle in Battinsthal hat noch nie so viele Menschen auf einmal gesehen“, zeigte sich Landrat Michael Sack nach der Aufführung begeistert. Der Weg dorthin, die Menschen zum Mitmachen zu mobilisieren, war dabei nicht einfach – auf Skepsis waren die Künstler*innen zunächst vielerorts gestoßen. „Es macht Freude, zu sehen, dass sich Haltungen verändern“, resümiert die Choreografin Be von Vark. „Aber ich möchte nicht verschweigen: Das ist harte Arbeit.“ Deshalb ist es gut, dass die Früchte dieser Arbeit mit der zweiten Aufführung Mitte Juni 2024 in Przecław (Polen) erneut zu bewundern sind.
Was bleibt: „Der Prozess ist die Kraft.“
Dass durch die Dorfresidenzen neue Synergien in den Orten selbst und über Ortsgrenzen hinaus entstehen können, haben bereits einige der bislang acht initiierten Dorfresidenzen gezeigt. „Der Prozess ist die Kraft“, fasst Wiebke Waburg zusammen, die sich im Rahmen eines Forschungsprojektes an der Universität Koblenz unter anderen mit künstlerischen Residenzen in ländlichen Räumen befasst hat.
Für den Kulturlandbüroleiter David Adler zeigt sich diese Wirkung nachhaltig an Initiativen wie in Pasewalk, wo der Verein „Pasewalk aktiv“ im Nachgang zur Dorfresidenz immer neue Engagierte anzieht und Menschen zusammenbringt. „Hier hat eine schräge Kunstaktion am Ende einen großen Beitrag zur Regionalentwicklung geleistet.“ Dabei weist er aber gleichzeitig auch auf eine zentrale Erkenntnis nach mehreren Dorfresidenzen hin: „Die Dinge brauchen Zeit, um sich entwickeln zu können. Aus den Residenzen haben wir gelernt, dass viele Menschen auch erst einmal überfordert sind, wenn man sie fragt, was sie möchten, was sie sich für ihren Ort, für ihre Dorfgemeinschaft wünschen, weil sie das lange nicht gefragt worden sind.“
Umso mehr ist Dietger Wille, Beigeordneter und 2. Stellvertreter des Landrates im Landkreis Vorpommern-Greifswald sowie Mitglied in der Lenkungsgruppe des TRAFO-Projekts, vom Konzept der Dorfresidenzen und der Arbeit des Kulturlandbüros überzeugt. „Wir sehen, dass schon ganz viel da ist und uns wurde gezeigt, dass man mit ehrenamtlichem Engagement – und das ist die Stärke des Projektes – auch noch viel mehr tun kann.“ Eine Verstetigung der Arbeit des Kulturlandbüros und eine Erweiterung des Aktionsradius im gesamten Landkreis Vorpommern-Greifswald über das TRAFO-Programm hinaus werden daher nicht nur von ihm angestrebt.