Gibt es einen Fahrplan für Kokreation? Lässt sich eine Dorfgemeinschaft innerhalb eines halben Jahres zur Mitgestaltung aktivieren? Und wie kann sich aus einer künstlerischen Aktion eine langfristige Allianz bilden, um gemeinsam das Zusammenleben im Dorf im Zeichen des Wandels zu gestalten? Fünf Kultureinrichtungen schlossen sich in Rendsburg-Eckernförde zur „KreisKultur“ zusammen, um genau das zu erproben. Mit der „KreisKultur-Route“ schufen sie einen exemplarischen Ablaufplan für die kokreative Entwicklung von Kulturprogrammen. In 20 Dörfern und Kleinstädten ist das Verfahren mittlerweile getestet.
Die Ausgangslage
Im flächenmäßig größten und zugleich bevölkerungsreichsten Kreis Schleswig-Holsteins mit mehr als 150 Gemeinden ging es im Rahmen des TRAFO-Projektes „KreisKultur“ genau darum: um das Schaffen von Gründen und Anlässen, um im Dorf zusammenzukommen – und zugleich um weitaus mehr. Es ging um die Frage, wie mit Kultur im ländlichen Raum Gemeinschaft aktiviert und gemeinsam gestaltet werden kann.
Alle fünf KreisKultur-Partner sind in ihren Bereichen erfahrene Programmentwickler und Projektträger. Sie widmen sich mit ihren Kultur- und Bildungsangeboten auch Themen wie z.B. Integration, Digitalisierung, demografischer Wandel, Jugendarmut, der Bewahrung kulturellen Erbes, dem Klimaschutz etc. Und genau dieses Mindset, die eigene Aufgabe als Kultureinrichtung mit einem gesamtgesellschaftlichen Auftrag zu verbinden, ist auch der Ansatz von „KreisKultur“: Hier soll mit kultureller Kompetenz eine Aktivierung gelingen, die dem Gemeinwohl zu Gute kommt und globale Themen, das „Big Picture“, mit lokalen Herausforderungen ins Verhältnis setzt.
Wirkten die Kultureinrichtungen bislang eher als Solitäre in den Städten gaben sie mit ihrem Zusammenschluss zur „KreisKultur“ den Auftakt für einen intensiven Transformationsprozess für die Region. Das Leitmotiv für alle Aktivitäten ist dabei Kokreation: „KreisKultur“ geht nicht mit fertigen Programmen aufs Land, sondern vielmehr werden die kulturellen Angebote jeweils aus den Bedürfnissen und Bedarfen heraus gemeinsam mit den Menschen vor Ort entwickelt.
Was heißt hier Kokreation?
Das erfordert eine völlig neue Art des Zusammenarbeitens – sowohl in den Institutionen als auch in den und mit den Orten, wo die Menschen für das Mitmachen, aus dem ein Selbermachen folgt, erst gewonnen werden müssen. „Kokreation ist die intensivste Form, Bürger:innen am Gestaltungsprozess ihrer Gemeinden zu beteiligen“, heißt es auf der KreisKultur-Website. „Sie geht über eine Beteiligung durch Abstimmungen hinaus. Sie ermöglicht es Menschen, sich im Schaffensprozess von Formaten und Zielen für die Gemeinde aktiv, kreativ und miteinander einzubringen. Kokreative Prozesse sind ergebnisoffen und werden nicht gesteuert.“
Als Voraussetzung für diese Arbeitsweise richtete jede der Einrichtungen eine neue Stelle ein: die der Transformationsmanagerin bzw. eines Transformationsmanagers. Diese schieben die Prozesse zum einen innerhalb der Institutionen an und begleiten sie zugleich auch vor Ort auf dem Land.
Für diese Zusammenarbeit auf Augenhöhe – also zwischen Gemeinden und Künstler*innen, zwischen Kultureinrichtungen und Dorfbewohner*innen – wurde eine Art Fahrplan, eine Methode entwickelt – die „KreisKultur-Route“.
Die Route im Überblick
Welche Schritte braucht es, um einen kokreativen Prozess innerhalb eines bestimmten Zeitraums umzusetzen? Ein Manual für Kokreation zu entwickeln – geht das überhaupt? „KreisKultur“ hat mit der Route genau das versucht. 10 Schritte in 3 Etappen innerhalb von 6 Monaten: 14 teilnehmende Gemeinden haben diese Route mittlerweile erprobt.
Die Etappen der „KreisKultur-Route“ gliedern sich in Mitmachen, Selbermachen, Weitermachen. Der Gesamtprozess spannt den Bogen vom Einsammeln erster Anregungen aus den Dörfern über eine erste gemeinsame künstlerische Aktion und das Ermöglichen von Partizipation bis hin zur Verstetigung oder Weiterentwicklung fortlaufender kultureller Angebote.
Dabei läuft jeder Prozess in den einzelnen Gemeinden in der Ausgestaltung individuell ab – die jeweiligen Meilensteine und Etappen der Route helfen aber, die Prozesse zu strukturieren und zu steuern.
Am Start
Die Vorlaufphase beginnt mit der Bewerbung eines Ortes. „Wir kommen nur, wenn wir eingeladen werden“, erklärt Stefanie Kruse. Es ist wichtig für „KreisKultur“, dass es Menschen im Ort gibt, die sich mit der Bewerbung darauf einlassen, ergebnisoffen für die Zukunft der jeweiligen Gemeinde aktiv zu werden. Niemand weiß am Anfang, was am Ende rauskommt.
Die Bedingungen und Anforderungen für die Teilnahme sind einfach und auf der Website klar formuliert. Drei Punkte müssen erfüllt werden: „Der Ort liegt im Kreis Rendsburg-Eckernförde. Der Ort hat ein gelbes Ortsschild. Ihr möchtet, dass in Eurem Ort Kultur stattfindet und diese zu nachhaltiger Veränderung nutzen.“ Die Bewerbung kann jede*r aus dem Ort einreichen: „Es ist egal, ob Ihr eine oder mehrere Privatpersonen, in einem Verein oder in der Gemeindeverwaltung tätig seid“, heißt es auf der Webseite weiter.
Geht eine Bewerbung ein, dann greift Projektmanagerin Stefanie Kruse erst einmal zum Telefon und führt ein erstes Gespräch. In der Regel erfolgt im Anschluss ein Besuch vor Ort, um Motivationen und Hintergründe der Bewerbung besser kennenzulernen.
Über die tatsächliche Teilnahme eines Ortes entscheidet dann eine fünfköpfige „KreisKultur-Jury“, in der Künstler*innen aus der Region ebenso stimmberechtigt sind wie die Referatsleiterin aus dem Ministerium oder die Kreispräsidentin. „Entscheidend sind hierbei unter anderem: Engagement verschiedener Bürger:innen, Beteilung der Gemeindeverwaltung und ein bereits vorhandenes Kulturangebot“, erläutert „KreisKultur“ die Entscheidungskriterien auf der Website.
Etappe 1: Mitmachen
In der ersten Etappe der Route geht es vor allem darum, Menschen miteinander zu verbinden. Es wird ein Angebot unterbreitet, sich zu treffen, ins Gespräch zu kommen. „Wir fangen dann meist mit einem Pop-up-Café an. Dort gibt es ganz offene und ungezwungene Gespräche darüber, was die Menschen vor Ort bewegt“, beschreibt Transformationsmanagerin Sandra Wierer den Auftakt vor Ort.
Ganz wichtig ist hier das Zuhören, gemeinsam geht es an die Bestandsaufnahme. Die Gespräche laufen auf Augenhöhe und beinhalten sehr viele Fragen: Wie geht es den Menschen in ihren Wohnorten? Was möchten sie ändern in ihrem Lebensumfeld? Was ärgert sie?
Mal findet das Pop-Up-Café in einer Scheune statt, mal auf dem Dorfplatz oder in einem ehemaligen Kindergarten. Zu den Pop-Up-Cafés fahren eine Transformationsmanagerin oder ein Transformationsmanager aus einer der Institutionen und Projektkoordinatorin Stefanie Kruse. Los geht’s mit einem Bulli voller Kreativmaterial. Mit Hilfe von Playmobil-Figuren können Bewohner*innen beispielsweise auf einer groß ausgedruckten Karte des Ortes Dorfsituationen spielerisch nachstellen, ihren Ort erklären. Kinder zeigen, wo sie am liebsten spielen, Bürger*innen, wo Wege verlaufen. Die einen nutzen die Playmobil-Figuren, andere kneten etwas, wieder andere erzählen von ihrem Ort bzw. auch davon, was sie vermissen.
„Es wird deutlich, wie der Ort tickt.“, so Stefanie Kruse. „Leerstellen zeigen sich, problematische Verkehrsverläufe und vieles mehr. Alles passiert spielerisch. Das senkt die Hemmschwelle.“ In Sehestedt kamen beispielsweise die Verkehrsprobleme an der Sehestedter Fähre zur Sprache, in Brekendorf war es der Wunsch nach einer Verkehrsberuhigung, in Blumenthal Müll-Upcycling und die Gestaltung des Dorfplatzes in Felde.
Die Pop-Up-Besuche verlaufen sehr verschieden. Fast immer fällt hier aber die Entscheidung über eine erste gemeinsame künstlerische Aktion, denn die ist der nächste Schritt in der „KreisKulturRoute“. Sie hilft bei der Schärfung des Themas und dabei, Besonderheiten und Geschichten des Ortes zu entdecken und einzusammeln. Aus den Vorgesprächen entwickeln die Transformationsmanager*innen der „KreisKultur“ jeweils fünf Vorschläge, aus denen die Bewohner*innen vor Ort wählen können.
Die Vorschläge sind Ideen für eine gemeinsame künstlerische Aktion, die jeweils mit Hilfe des sogenannten „Expert*innenpools“ der „KreisKultur“ entwickelt wird. In diesem Pool wirken Künstler*innen, aber auch Wissenschaftler*innen oder Bühnentechniker mit – sie repräsentieren die verschiedenen Kompetenzen und Expertisen, die die jeweiligen Kultureinrichtungen der „KreisKultur“ über ihre jeweiligen Netzwerke in das Projekt einbringen können.
Mit den kreativen Interventionen wird der erste gemeinsame Schritt gegangen und dabei die Sensibilität für den Ort geschärft. Oft entdecken die Bewohner*innen Neues in ihrem vertrauten Umfeld. Im Rahmen von „Dorf gestalten“ in Sehestedt beispielswiese arbeiteten die Bewohner*innen unter Anleitung der Künstlerin Heide Klencke. Mehr als 40 Familien machten mit und kneteten insgesamt drei Kilo Ton, 110 Figuren sind entstanden. „Ich hatte nicht erwartet, dass sich so viele Sehestedter beteiligen“, erinnert sich Bürgermeister Torsten Jürgens-Wichmann.“ Jede Tonfigur wurde Teil einer dauerhaften Installation – eine Dorfskulptur, die an die Anfänge der Veränderungen erinnert.
In Kosel bat der Kieler Lyriker und Künstler Stefan Schwarck die Bewohner*innen: „Beschreibe Dein Dorf mit einem Wort“. Agrikultur, kosellig, dörp, bültseeliebe, landleben, zuhause sind eine Auswahl der 70 Einreichungen – „Dorfworte“, die bleiben, nicht zuletzt, weil 14 davon auf Postkarten gedruckt und alle auf einer Website veröffentlicht wurden. Und in Jahrsdorf war das Initial ein Gemeinschaftskochbuch mit 70 Rezepten aus dem Dorf, mit humorvollen Illustrationen zu den Menschen in Jahrsdorf, gestaltet von der Illustratorin Franziska Ludwig.
Etappe 2: Selbermachen
Nach dem Mitmachen geht es um’s Selbermachen, also um die Aktivierung des Kokreativen, der Entwicklung eigener kultureller Formate vor Ort. Das geschieht im Rahmen sogenannter kokreativer Werkstätten. Sandra Wierer erklärt: „Daran schließt sich eine Werkstattarbeit an, in der wir mit jedem, der kommen möchte, Themen für den gesamten Ort bearbeiten.“
Gefragt wird: Was braucht unser Ort? Welches Thema soll sichtbar gemacht werden? Was möchten wir verändern? Auf Grundlage der Antworten und Ergebnisse entstehen die Ideen für neue längerfristige Kulturformate, die in den kokreativen Werkstätten erarbeitet werden. Es folgen Aktionen, Aufführungen und Bildungsangebote, basierend auf den Wünschen, Ideen und auch Sorgen der Menschen vor Ort.
Ein Projekt-Team, bestehend aus Projektmitarbeiter*innen und Bewohner*innen aus dem Ort ist die Kommunikationsschnittstelle zwischen „KreisKultur“ und den Bewohner*innen. An zwei Terminen treffen sich Bewohner*innen, Künstler*innen und Projektmitarbeiter*innen, um mit Kreativmethoden ihre Kulturveranstaltung zu entwickeln.
Die Kreativität und der Ideenreichtum sind groß. Und am Ende steht die Entscheidung für ein Projekt. In Jahrdorf war es beispielsweise ein Pop-Up Kino. Hinzu kam ein selbst gedrehter Kurzfilm “Die Spinnenfrau". Mit einem gemischten Filmteam aus Bewohnerinnen und Bewohnern von 10 bis 60 Jahren wurde er unter Anleitung von Filmregisseur und Medienpädagogen Claus Oppermann gedreht und feierte im Mai 2022 im Pop-Up Kino Premiere.
In Kosel setzte sich der Wunsch nach einem Dorffest durch. Sehestedt gründete eine eigene Band. In der Gemeinde Bargstedt wiederum war es ein Dorfmusical und in Bokel ein Talentworkshop, der aus den kokreativen Werkstätten heraus entwickelt und innerhalb eines halben Jahres umgesetzt wurde.
Etappe 3: Weitermachen
Die Präsentation des Projektergebnisses bildet das große Finale, das in den einzelnen Orten gut vorbereitet und gefeiert wird. Medienarbeit zur Erhöhung der Bekanntheit ist hier ein wichtiger Bestandteil der Arbeit. Gleichzeitig geht es um Verstetigung. Sandra Schrader, Chefin des Jahrdorfer Kulturvereins berichtet, dass bereits ein neuer Film in Produktion ist und verweist stolz auf die Nominierung des Filmes beim 36. Bundes.Festival.Film. in der Kategorie "Deutscher Generationenfilmpreis".
In Kosel ist eine regelmäßige Wiederholung des Dorffestes unter dem Namen Misskonertby geplant. Der Name wurde während der „Kreiskultur“ von den Bürger*innen entwickelt und steht für die beteiligten Orte – Missunde (Miss-), Kosel (-ko-), Bohnert (-nert-) und Weseby (-by). Und in Sehestedt, wo in Zusammenarbeit mit Claudia Piehl vom NordKolleg Rendsburg bereits zur kokreativen Werkstatt ein Sehestedt-Song entstanden war, gründeten die Bewohner*innen ihre Band, bestehend aus 12 Sänger*innen und 5 Bandmitgliedern. Hier soll in Zukunft eine professionelle Leitung finanziert werden, um das regelmäßige Arbeiten und den Fortbestand zu sichern.
Denn Fortbestand und Langfristigkeit der Aktivierung sind Grundgedanken der „KreisKultur-Route“. Auch deshalb kommen am Ende des Projektes noch einmal alle Beteiligten vor Ort zusammen, blicken zurück und beratschlagen darüber, wie es weitergehen, wie die neu entfachte Energie weiter genutzt werden kann. Wie kann es gelingen, weiter zusammen zu arbeiten, im Dorfleben selbst partizipativ Gemeinschaft zu gestalten?
Stefanie Kruse beobachtet, dass die Gemeinden, in denen die „KreisKultur“ bereits aktiv war, Strahlkraft entwickeln. Es bewerben sich Nachbargemeinden. Genau solche Kooperationen sollen auch zukünftig stärker gefördert werden: „Ein KreisKultur-Projekt, das mit einer Nachbargemeinde ein neues Projekt angeht kann bei der Kulturstiftung des Kreises Fördergeld beantragen.“
Nach den ersten drei Jahren zieht das KreisKultur-Konsortium eine positive Bilanz. Die entwickelte Methode der KreisKultur-Route scheint übertragbar und überall auf dem Land anwendbar. Vom gebündelte Know How der fünf Kulturinstitutionen im Zusammenschluss als „KreisKultur“ profitieren alle. Guido Froese vom Nordkolleg resümiert: „Wir sind nach drei Jahren Zusammenarbeit in diesem Konsortium von dem Modell total überzeugt und hoffen, dass wir mit dem Modell aus dem Norden Deutschlands auch andere Kulturinstitutionen zu einer konsortialen Zusammenarbeit bewegen können.“
Erschienen am 24.04.2024.