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"Kultur ist kein Trojanisches Pferd für politische Bildung"
Interview mit Simon Lengemann

Im kürzlich gemeinsam mit dem Deutschen Landkreistag veröffentlichten Empfehlungspapier plädiert TRAFO dafür, Beteiligung ernst zu nehmen und partizipative Formate mit künstlerischen Mitteln zu realisieren. Dafür setzt sich auch die Bundeszentrale für politische Bildung ein: Mit einem neuen Standort in Gera versucht sie seit 2021 verstärkt, neue partizipative und kokreative Formate und Ideen der politischen Bildung zu erproben – und setzt damit auch auf die Zusammenarbeit von Kultur und politischer Bildung. Einer der Fachbereichsleiter vor Ort, Simon Lengemann, beschreibt im Interview, was künstlerische Beteiligungsformate im Gegensatz zu klassischen Angeboten der politischen Bildung leisten können und worin der gesellschaftliche Mehrwert einer Partnerschaft von Kunst, Kultur und politischer Bildung liegt.

Lieber Herr Lengemann, Sie leiten den neuen Fachbereich „Politische Bildung in Veränderungsprozessen“ der bpb in Gera. Das heißt Sie beschäftigen sich – wie TRAFO auch – mit Regionen, die einem starken Wandel unterworfen sind. Was haben Sie sich vorgenommen?
Lengemann: Wir wollen uns hier am Standort Gera verstärkt um postindustrielle Regionen kümmern, die starken Transformationsprozessen ausgesetzt sind, wie zum Beispiel die ehemaligen Braunkohlreviere. In Gera ist etwa nach der Wende die SDAG Wismut als größter Arbeitgeber praktisch über Nacht weggebrochen. Die Kumpel, die hier einmal unter Tage gearbeitet haben, waren in der DDR privilegiert. Plötzlich standen sie und mit ihnen die ganze Stadt vor dem Nichts. 1989 hatte Gera 135 000 Einwohner, heute noch 92 000. Die Stadt wirkt heute irgendwie zu groß für das Leben in ihr. Wenn man durch die Stadt läuft, spürt man schon ein wenig den Blues.

Derartige sozioökonomische Veränderungen betreffen die Menschen in solchen strukturschwachen Regionen in einer existenziellen Weise. Wenn sie nicht gut abgefedert werden, können sie zu einer Delegitimierung des politischen Systems führen. Dem Gefühl, das heute viele Menschen in diesen Regionen haben, dass alles nur über ihre Köpfe hinweg passiert, versuchen wir entgegenzuwirken.

Als Akteur der politischen Bildung setzen Sie dabei auch auf Beteiligung durch künstlerische Mittel. Warum?
Lengemann: Wir wollen ganz im Sinne des klassischen Auftrags der bpb Wissen darüber vermitteln, was gerade in der jeweiligen Region geschieht. Und in einem nächsten Schritt die Menschen ermutigen, sich einzumischen und mitzugestalten. Für diesen partizipativen Prozess wollen wir mit künstlerischen Formaten und in Partnerschaften mit Kulturakteuren und Kultureinrichtungen arbeiten.

Künstlerische Formate ermöglichen multiperspektivische und gleichzeitig unmittelbarere Zugänge zu komplexen Themen. Sie kommen eher über die emotionale Ebene zu gesellschaftlichen Fragen. Gerade im öffentlichen Raum wecken künstlerische Formate auch viel schneller Neugier. Dabei ist mir wichtig zu betonen, dass für uns die Kultur nicht ein Trojanisches Pferd ist, mit dem wir wie durch die Hintertür die Menschen für politische Fragestellungen begeistern wollen. Wir glauben vielmehr, dass kulturelle Ansätze in der politischen Bildung einen Eigenwert haben, der viel mit Kreativität zu tun hat.

Gibt es schon Pilotformate, von denen Sie sagen können: Das hat Kraft, das könnte eine besondere Wirkung entfalten?
Lengemann: In Gelsenkirchen arbeiten wir zum Beispiel mit dem Consol Theater zusammen, das einen „Kulturkiosk“ aufmachen wird: ein niedrigschwellig zugänglicher Ort, wo in künstlerischen und diskursiven Formaten wie „Bürger*innendinners“ Themen bearbeitet werden, die die Stadt betreffen.

In Düsseldorf gehen unsere Partner aus der politischen Bildung in einen Betrieb der Schwerindustrie und sprechen mit den dort beschäftigten Frauen über die Zukunft der Arbeit. Sie kooperieren dabei mit einem Jugendtheater, das selbst an diesem Thema arbeitet. Dabei kommen wir zu ganz ähnlichen Fragen wie die Projekte in TRAFO: Wie wollen wir in Zukunft das Zusammenleben organisieren? Wie können wir mit dem Gefühl des permanenten Wandels umgehen, und was bedeutet gesellschaftliche Solidarität heute?

Welche Rolle spielen dabei das Experiment und vielleicht auch eine gewisse Langfristigkeit des Vorhabens?
Lengemann: Alle drei Fachbereiche in Gera gehen im Bereich der politischen Bildung neue Wege, weil sie kokreative Ansätze forcieren. Mein Team und ich stellen insbesondere die Idee sozialräumlicher politischer Bildung in den Mittelpunkt. Die trägt der Erkenntnis Rechnung, dass es nicht die eine Form der Vermittlung gibt, kein „One size fits all“. Wir wollen genauer hingucken, was die Menschen in Regionen brauchen, die einen schwierigen sozioökonomischen Bruch erlebt haben, mittendrin stecken oder vor der Brust haben. In solchen Regionen wollen wir neue Prozesse ausprobieren, in denen wir in den Dialog, vielleicht auch einmal in den Clinch gehen.

Die Menschen sollen unterstützt werden, vor Ort passgenaue Lösungen und Strukturen für ihre Herausforderungen zu erarbeiten. Das ist mit wechselseitigem Lernen, punktuellem Scheitern und vor allem komplexen Aushandlungen verbunden. Dafür braucht es Zeit und die Bereitschaft, längerfristige Vorhaben anzustoßen und zu fördern.

TRAFO setzt sich für Partnerschaften zwischen der politischen Bildung und dem Kulturbereich ein, da wir gemerkt haben: Es geht um umfassende Themen wie Demokratiestärkung und sozialen Zusammenhalt – da reicht es nicht, wenn Kulturakteure alleine darüber nachdenken, dafür braucht es Allianzen mit Politik und Verwaltung. Wie können Kultur und politische Bildung gut zusammenarbeiten?
Legemann: In strukturschwachen Regionen – seien es nun ländliche Räume oder Städte, die ihre wirtschaftliche Basis verlieren – ist es meiner Meinung nach wichtig, Institutionen zu stärken, sei es ein kleines Theater, sei es eine Kulturscheune, sei es die Volkshochschule. Stärken wir diese Institutionen, werden die Kultur und die Politische Bildung profitieren und zukünftig auch ihre gemeinsame Zusammenarbeit. Ich habe den Eindruck, dass der Kulturbegriff, den TRAFO verfolgt, nicht nach den Unterschieden zwischen den Institutionen fragt, sondern nach gemeinsamen Interessen und Zielen einer ganzen Region. Insofern ist das ein für uns interessanter Ansatz.

Mehr Informationen:
Die bpb in Gera