Themen

Runter von der Bühne, raus auf die Bühne
Interview mit Dr. Ute Lemm und Sandra Wierer

Wie kann ein Landestheater seine Region genauer in den Blick nehmen? Welche neuen Wege führen an unbekannte Orte? Wie finden ein großer Theaterbetrieb und die Menschen der Region zusammen? Im Rahmen des TRAFO-Projekts KreisKultur will das Schleswig-Holsteinische Landestheater im Austausch mit Bürgerinnen, Initiativen und Vereinen aus der Region Rendsburg-Eckernförde genau darauf Antworten finden. Im Interview berichten Dr. Ute Lemm (Generalintendantin Schleswig-Holsteinisches Landestheater) und Sandra Wierer (Transformationsmanagerin am Landestheater) über ihre ersten Erfahrungen mit den angestoßenen Transformationsprozessen und der kokreativen Zusammenarbeit – draußen auf dem Land und drinnen im Theater.

Liebe Frau Dr. Lemm, Landestheater haben einen Auftrag für die Fläche. Ihr Haus beispielsweise bespielt Bühnen von Flensburg ganz im Norden von Schleswig-Holstein bis Itzehoe kurz vor Hamburg. Sie haben trotzdem beschlossen, die Region noch einmal ganz anders in den Blick zu nehmen. Warum ist Ihnen das wichtig?
Ute Lemm: Wir sind tatsächlich zwischen Ost- und Nordsee, von der dänischen Grenze bis kurz vor Hamburg unterwegs. Hier haben wir den Auftrag von unseren etwa 15 Gesellschaftern, Theater anzubieten. Schleswig-Holstein besitzt eine spannende regionale Vielfalt. Wir fragen uns daher gerade: Was unterscheidet die eine Region von der anderen? Welche verbindenden Themen gibt es? Was gibt es zum Beispiel für mögliche alternative Spielorte für kleinere Formate? Mit anderen Worten: Was brauchen die Regionen für ein Theater? Gerade in Ecken unseres Spielgebiets, wo wir nur ein paar Mal im Jahr sein können, ist es nicht immer leicht zu wissen, was es vor Ort für gesellschaftliche Entwicklungen gibt. Wir wollen nicht an den Wünschen und Bedürfnissen der Menschen vorbei Theater von der Stange anbieten. Denn gerade Theater bietet ja die Möglichkeit, verschiedene Perspektiven und Utopien spielerisch zu erproben, ins Gespräch zu kommen, einander zuzuhören und aufeinander einzugehen – und das in der konkreten zwischenmenschlichen Begegnung.

Welchen Beitrag kann das Projekt KreisKultur dazu leisten?
Sandra Wierer: Mit dem Pioniergeist des KreisKultur-Projekts ist nun ein neuer Ansatz hinzugekommen: Wir möchten die Menschen in der Region zum Mitgestalten vor Ort zu gewinnen. Das machen Menschen ja nicht einfach so! Da muss schon klar sein, was sie davon haben können. Und das Vorhaben muss auch eine gewisse Aussicht auf Erfolg haben. In unserer Projektregion Rendsburg-Eckernförde gehen wir auf die Menschen zu und fragen: Was beschäftigt euch vor Ort? Worüber wird diskutiert und gestritten? Und welche der Themen können wir mit welchen lokalen Partnerinnen aufnehmen und mit den Mitteln des Theaters – und hier passt diese Floskel – „bespielen“. Im besten Fall entwickelt sich daraus etwas, das Erkenntnisse liefert und neue Wege für eine Kulturpraxis der Zukunft in ländlichen Räumen ebnet.

Lemm: Das ist für uns eine ganz besonders spannende Form von Feldforschung. Als Landestheater haben wir bisher schon gute Verbindungen und Netze, auch – und nicht zuletzt – durch die große Zahl der Mitarbeiter, die an unserem Haus arbeiten. Mit dem Projekt KreisKultur können wir nun manches Vage oder nur Vermutete genauer in den Blick nehmen: Was sind die Wünsche, die Erwartungen und vielleicht auch Hoffnungen, die mit unserem Theater in der Region verknüpft werden? Denn als Theater wollen wir als Resonanzraum Antworten für lokale Herausforderungen in ländlichen Regionen miterarbeiten. Der Begriff Antwort wäre hier weit zu fassen: Künstlerische und kreative Auseinandersetzung zur Bewusstmachung von Themen liefern Teilantworten oder bieten neue Sichtweisen an. Also: Auch ein Kunstobjekt wie eine große Skulptur kann dadurch, dass sie sichtbar auf ein Problem hinweist, Lösungsansätze befördern. Oder es kommen regionale Teilantworten zustande, indem man mittels eines selbstkomponierten Musicals auf lokale oder globale Herausforderungen reagiert. Das Landestheater mit seinen Mitarbeitenden stellt in diesen Szenarien seine Weltbetrachtung und künstlerische Perspektive zur Verfügung und trifft auf Bürgerinnen, die Experten für ihr Lebensumfeld sind.

Ein Landestheater ist ein großes Unternehmen. Als künstlerischer Betrieb hat es hohe Standards; für das Funktionieren des Betriebs sind Routinen und ein hoher Grad an Arbeitsteilung wichtig. Wie kann so ein Unternehmen mit ehrenamtlichen Vereinen und Initiativen zusammenarbeiten, und dies gemeinsam und auf Augenhöhe?
Lemm: Natürlich sind wir ein ziemlich großes Schiff, wenn Sie so wollen, ein mittelständisches Unternehmen mit Verträgen und Tarifen, und es ist nicht immer ganz leicht, kleinere Initiativen und ihre Ideen damit zusammenzubringen. Aber daraus entsteht viel Energie und am Ende können beide Seiten profitieren. Und dank KreisKultur und der Tätigkeit von Frau Wierer können wir noch strukturierter in diese Prozesse einsteigen – insbesondere darin sehe ich die neue Qualität für die Zusammenarbeit mit den Menschen, Initiativen und Vereinen der Region.

Liebe Frau Wierer, im Projekt KreisKultur sind Sie seit einem Jahr in den Kommunen des Landkreises Rendsburg-Eckernförde unterwegs und arbeiten dort mit Menschen kokreativ zusammen. Wie sieht Ihre Arbeit konkret aus?
Wierer: Die kokreative Zusammenarbeit ist eine Vorgehensweise, die in dieser Größenordnung noch in den Kinderschuhen steckt, jedenfalls was große Kulturhäuser mit festgelegten Aufträgen angeht. Für uns ging es im vergangenen Jahr zunächst viel darum, ein Vorgehen zu entwickeln, das Zusammenarbeit auf Augenhöhe ermöglicht und für alle verständlich ist.

Zunächst: Wir kommen nur, wenn wir eingeladen werden. Interessierte Dörfer bewerben sich bei KreisKultur und laden uns ein. Und in der konkreten Arbeit kommen viele spielerische und kreative Methoden zum Einsatz, mit denen es viel leichter ist, thematisch auf den Punkt zu kommen.

Wir fangen dann meist mit einem Pop-up-Café an. Dort gibt es ganz offene und ungezwungene Gespräche darüber, was die Menschen vor Ort bewegt. Auf großen Ortsplänen werden Begebenheiten und Fakten zum Dorf eingemalt oder mit Figuren nachgestellt. Dadurch entdecken alle Beteiligten das Ortsnetzwerk nochmal ganz neu und hören Einschätzungen von Mitbürgern.

Daran schließt sich eine Werkstattarbeit an, in der wir mit jedem, der kommen möchte, Themen für den gesamten Ort bearbeiten. Die Themen, auf die wir dabei stoßen, sind sehr unterschiedlich. Das kann die Unzufriedenheit über zugeparkte Straßenabschnitte sein, das kann das Problem des abnehmenden Engagements für das Gemeinwohl sein – ein Effekt, der in touristisch attraktiven Dörfern der Region durch einen Überhang an Zweitwohnsitzen entstehen kann. Viel geht es auch um die Jugend auf dem Land und deren Perspektive für die Zukunft.

Anschließend strukturieren wir die Themen gemeinsam: Was wären gute und spannende Themen für die gemeinschaftliche Arbeit? Was können und wollen die Menschen zusammen bewirken? Wo liegt die Energie? Unser Ziel ist, Themen aus der Region mit Mitteln der Kunst und Kultur sichtbar werden zu lassen, im besten Fall Lösungen anzubieten.

Wie sieht das konkret aus?
Wierer: Beispielsweise begann in einem Ort die Arbeit mit dem Aufruf des Künstlers Stefan Schwarck: Beschreibe dein Ort in einem Wort. Das Projekt trug den Titel „mein dorf – tausend worte“ und fand damit einen Zugang zu der Frage, was die Gemeinde Kosel identitätsstärkend tun könnte, um das Gemeinwesen in Orten an der Schlei gegenüber finanzkräftigen ferienhausbegeisterten Großstädtern nicht zerrütten zu lassen. Es entstand eine Sammlung unter www.dorfworte-kosel.de, die danach von Bürgern eigenständig in eine weitere Kunstform, nämlich in ein Filmprojekt überführt wurde. Bei „mein wort – tausend bilder“ dienten Postkarten mit den Worten als Grundlage; dazu wurde von Bürgern Musik komponiert und gespielt. Es ist eine Freude, das Ergebnis zu sehen. Darauf aufbauend sind wir nun mit einem großen Festival in Planung, das Jung und Alt über ein Jahr lang in Veranstaltungen zusammenkommen lassen wird.

In Ihrer Funktion als Transformationsmanagerin sollen Sie Wissen für Ihre Institution sammeln, mit dem Ziel, dass das Theater für die Menschen in der Region weiterhin relevant bleibt. Wie fließen Ihre Erfahrungen aus der Arbeit in den Regionen zurück ins Theater? Und wie reagieren die Kolleginnen im Theater auf Ihre Arbeit und Ihre Rolle?
Wierer: Wir haben hier am Theater einen Pool aus Experten gebildet: Schauspielerinnen, Sänger, aber auch Kostümbildnerinnen oder Bühnenbildner. Gerne sollen noch Technikerinnen oder Raumpfleger dazukommen. Je nach Neigung und Expertise nehmen sie Ideen aus den kokreativen Werkstätten auf und versuchen, diese zusammen mit den Bürgerinnen künstlerisch zu bearbeiten. Es wird probiert und erforscht: Bauen wir etwas zusammen? Schmieden wir eine Brücke über den Nord-Ostsee-Kanal als Zeichen für Verbindung, wo etwas schmerzlich trennt? Starten wir ein Deutsch-Dänisches Sprachenprojekt in der Grenzregion? Geben wir unserer Region ein Gesicht, indem wir Friedhofskultur mit versöhnlichen Kunstobjekten hinterfragen und damit für neue Bestattungskulturen den Blick weiten – um nur einige Beispiele zu nennen, um welche Themen und Ideen sich unsere Arbeit dreht.

Im Moment erleben die Menschen aus den beteiligten Orten und unsere Mitarbeitenden aus dem Pool etwas gemeinsam. Die Aufgeschlossenheit ist sehr groß. Wenn diese Arbeit so vielfältig wie bisher weitergeht, wird sie sicherlich Auswirkungen auch auf den Theaterbetrieb haben.

Liebe Frau Dr. Lemm: Welche Themen sollte Frau Wierer als Transformationsmanagerin in den Blick nehmen?
Lemm: Das Spannende an diesem ganzen Projekt ist für mich, dass wir den Blick nach draußen, aber auch nach drinnen werfen. Was für ein Modell für eine Kultur im Wandel entwickeln wir gerade? Welches Theater machen wir, und für wen werden wir es in Zukunft machen? Wir merken, dass ein besonders großes Thema ist, wie wir miteinander kommunizieren – im Haus und in der Öffentlichkeit. Uns allen geht es um einen auf Fairness beruhenden Kommunikationsstil, aber der will gelernt und geübt sein! Ich bin überzeugt davon, dass dies auch in hierarchischen Strukturen möglich und nötig ist.

Die Transformationsmanagerinnen legen großen Wert auf eine kokreative Zusammenarbeit bei der Erarbeitung eines Kulturprogramms in den Kommunen. Inwieweit könnten diese Arbeitsweisen auch für das Theater eine Rolle spielen? Sowohl hinsichtlich der eigenen Organisation, als auch mit Blick auf die Programmentwicklung.
Wierer: Natürlich versuche ich, kokreative Ansätze auch innerhalb der Institution einzuführen. Das ist nicht leicht, besonders nicht, wenn die Rolle wie meine neu und damit nicht einschätzbar für Mitarbeiter ist. Auch intern wird nach dem Warum gefragt und es braucht Visionen, für die es sich lohnt, zusätzliche Anstrengungen zu unternehmen. Insofern ist es ein wirklich glücklicher Umstand, dass der Start meiner Arbeit am Landestheater in die Zeit des Intendanzwechsels fiel. Solche Wechsel bringen immer neue Ansätze und Visionen mit sich. Frau Dr. Lemm ist hier mit einer Offenheit und einem Selbstverständnis unterwegs, die es erst möglich machen, kokreative Ansätze selbst in einem hierarchisch vorgeprägten Unternehmen vorsichtig vorzuleben. Denn das braucht es: eine Ansage der Leitung, anders miteinander zu arbeiten, nämlich kooperativer und offener. Dafür gibt es auch im Haus Workshops, die sich vor allem der Frage widmen, was es für eine neue Gesprächskultur braucht. Ich sehe uns auf einem guten Weg, der aber in einem Haus mit 400 Mitarbeiterinnen naturgemäß lang ist.

In einer großen internen Tagung zu Zukunfts- und Identifikationsfragen haben sich alle Führungskräfte des Landestheater erst kürzlich mit übergeordneten Fragen befasst: Wie wollen wir Leitlinien definieren? Was gibt uns der wertebasierte Verhaltenskodex des Bühnenvereins auf? Diese Themen wurden in kokreativer Werkstattarbeit durchgeführt und konnten damit Inspiration für mögliche neue Kommunikationskulturen geben.

Lemm: Theater ist schon immer ein Gemeinschaftsprojekt gewesen und hat im Kern sowieso etwas Kokreatives. Nur wenn alle zusammenarbeiten, geht abends der Vorhang hoch. Das heißt nicht, dass sich diese Zusammenarbeit nicht immer verbessern lässt. Es gibt Menschen, denen das kreative und initiative Zusammenarbeiten leichtfällt; anderen fällt es schwerer, mit Freiräumen umzugehen. Es ist eine Herausforderung, da alle anzusprechen. Wir wollen das tun, mit vorsichtigem Verständnis, aber beharrlich. Denn gleichzeitig zeigt sich, dass kokreative Arbeitsmethoden eine besondere Beweglichkeit und Fantasie hineinbringen, die eine motivierende Impulskraft haben.

Liebe Frau Lemm, wie haben das Projekt KreisKultur und die Arbeit von Frau Wierer Ihren Blick auf die Stadt-Land-Beziehungen bereits verändert?
Lemm: Also genau das ist ja unser Kerngeschäft! Ich glaube, für uns geht es darum, die permanente Transformation, der die Kultur unterliegt, gut im Blick zu behalten, damit wir mit unseren Möglichkeiten wichtige Akteure bleiben und werden! Ich bin begeistert über die Nachfrage, die KreisKultur in der Region ausgelöst hat: Wie schnell sich viele Dörfer und Stadtteile beworben haben, wie schnell künstlerische Aktionen stattfanden und wie viel Startenergie vorhanden ist. Corona war und ist ein großer Hemmschuh, gleichzeitig aber auch Training in Flexibilität… Insofern bin ich gespannt, wie wir diese trainierte Beweglichkeit dann endlich in KreisKultur-Projekte umwandeln können!