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Das kokreative Wir: Wie funktioniert das Gemeinsame zwischen Kultur, Politik und Verwaltung?
Jascha Rohr

Die Politik moderiert Prozesse, die Verwaltung managt Projekte. Ist das wirklich noch der beste Weg, um Kultur zu ermöglichen? Oder brauchen wir nicht vielmehr neue Haltungen und andere Ideen, um uns innerhalb der Gesellschaft über die Bedingungen für Kulturarbeit zu verständigen? Diese Überlegungen begleiten oft die in TRAFO angestoßenen Veränderungsprozesse. Der Transformationsdesigner Jascha Rohr erforscht und entwickelt neue Wege der Mitgestaltung, unter anderem für das TRAFO-Projekt KreisKultur. Für unser Themendossier "Neue Allianzen" weitet er den Blick und fragt nach dem Gemeinsamen zwischen Kultur, Politik und Verwaltung. Und zwar dort, wo man mit der Frage nach der Zusammenarbeit dieser Akteure direkt konfrontiert wird: vor Ort, in den Kommunen.

Transformation ist, wenn man nachher jemand anderes ist als vorher. Das gilt nicht nur persönlich, sondern auch für Gruppen, Organisationen und Gesellschaften. In einer Transformation wird das, was vorher war, durch etwas Neues ersetzt. Dieses Neue entsteht meist dann, wenn das Alte keine passenden Antworten mehr hat und der Schmerz darüber größer wird als die Furcht vor dem Neuen.

Veränderungen, große Fragen und Herausforderungen sehen wir in unserer Gesellschaft überall: Wie erneuern wir unsere Demokratie? Wie begegnen wir dem demografischen Wandel – insbesondere in ländlichen Regionen? Was tun wir gegen den Klimawandel und wie gestalten wir die Digitalisierung der Gesellschaft? All diese Fragen sind hochgradig komplex, dynamisch, vielschichtig. Wahrscheinlich werden wir uns darin einig sein, dass es zur Lösung dieser Herausforderungen neues Denken, neue Haltungen und neue Formen von Zusammenarbeit braucht. Aber welche? Und wie sähe diese Zusammenarbeit aus?

Vom Projektmanagement zur Prozessplastik

Seit den 90er Jahren ist das Bild der Kommune von einem ganz speziellen Leitbild geprägt: dem New Public Management, in Deutschland auch als Neues Steuerungsmodell bekannt. Vereinfacht gesagt bedeutet dieses Leitbild, dass wir eine Kommune wie ein Unternehmen betrachten. Bürger sind Kunden, die Politik ist die strategische Unternehmensführung, Verwaltungen sind die operationalen Dienstleistungsabteilungen. Steuerung und Projektmanagement sind die wichtigsten Begriffe, die kommunales Handeln beschreiben. Genau diese Form des Handelns ist von der Komplexität der aktuellen Herausforderungen jedoch überfordert. Management ist selten agil, lebendig, nachhaltig, komplex, kreativ, innovativ, partizipativ oder ergebnisoffen. Genau diese Eigenschaften sind aber für Transformationsprozesse notwendig.

Joseph Beuys hatte ein anderes Verständnis davon, wie man Gesellschaft gestalten kann. Er hat von der sozialen Plastik gesprochen. Er meinte damit, dass wir das Soziale selbst als Objekt der Kunst, als Teil des künstlerischen Prozesses verstehen können. Ich würde hinzufügen, dass wir auch Prozesse als Objekte der Kunst verstehen können: Entwicklungs-, Gestaltungs-, Transformationsprozesse. Als Gemeinwesengestalter wären wir dann immer auch Prozessbildhauerinnen. Die Art und Weise wie wir miteinander gestalten ist selbst agil, lebendig, offen wie die Kunst. Kunst ist ein weitaus besseres Modell um mit Transformation umzugehen als Management.

Gestaltung des Gemeinwesens ist Kultur

Am Ende ist es doch so: Ein Gemeinwesen hat seine Identität in seiner Kultur. Dabei ist Kultur mehr als Kunst, Theater, Musik. Kultur ist, wie wir unser alltägliches Leben miteinander gestalten, welche Rituale und Regeln wir pflegen, wie wir öffentliche Dinge entwickeln und entscheiden. Momentan ist unser Gemeinwesen häufig geprägt durch Silodenken (Kultur versus Verwaltung versus Politik versus Zivilgesellschaft versus Wissenschaft und so weiter). Es ist geprägt durch bürokratische Verfahren in hierarchischen Institutionen. Es ist geprägt durch eine umfassende Ökonomisierung, Produkt- und Konsumorientierung, durch pyramidale Organisationsformen und Machtstrukturen.

Möchten wir unser Gemeinwesen nachhaltiger, lebendiger, agiler und kreativer gestalten, müssen wir den Modus ändern, mit dem wir es verändern. Dazu brauchen wir eine andere, neue Kultur gesellschaftlicher Zusammenarbeit. Wer aufmerksam liest, merkt: Da beißt sich die Katze in den Schwanz. Transformation erzeugt immer diesen Zirkelschluss. Wir benötigen das, was wir erreichen wollen, in dem, wie wir es erreichen wollen. Obwohl wir es noch nicht erreicht haben. Wer schon mal eine tiefe persönliche Krise und Transformation erlebt hat, kennt diese Frage: Wie soll ich werden, wer ich werden will, ohne schon so zu sein, wer ich werden will?

Aus diesem Dilemma kommen wir auch als Gesellschaft nicht hinaus. Wir müssen uns aus unseren alten Strukturen soweit es geht lösen und die neuen Strukturen soweit wir können leben. Nur dann erreichen wir den Kipppunkt, an dem es nicht mehr vorstellbar ist, dass wir je anders gewesen sind. Wir können das Unvorstellbare ausprobieren und in dessen Erprobung merken, dass es funktioniert.

Das heißt: wir müssen jetzt schon so zwischen Kultur, Politik und Verwaltung arbeiten, als wäre die Transformation längst geschehen. Ein erster Schritt dazu wäre, gar nicht mehr von neuer Zusammenarbeit und Allianzen zu sprechen, denn die setzen ja Silos voraus. Stattdessen sollten wir das Gemeinsame als Standard setzen. Wir könnten dann von einem Gemeinwesen sprechen, in dem Menschen gemeinsam verwalten, entscheiden und gestalten. Mit unterschiedlichen Rollen aus unterschiedlichen Institutionen kommend, in wechselnden Konstellationen und Anteilen. Je nach Erfordernis und Kompetenz. Eine dynamische Prozessplastik.

Die Kokreative Kommune

Das Leitbild, das ich dafür verwende, ist die kokreative Kommune. Eine kleine Vision: Wir stellen uns ein Rathaus oder jede beliebige andere Institution als öffentlichen Raum vor, in dem alle Akteure eines Gemeinwesens zusammenkommen, sich beraten, eine Meinung bilden, entwickeln, entwerfen, entscheiden, beschließen, planen und eine bessere Zukunft gestalten. Es gibt ein großes Forum, es gibt Werkstätten und Kreativräume, natürlich auch Büros. Unternehmerinnen, Künstler, Politikerinnen, Verwalter, Wissenschaftlerinnen, Medienleute geben sich die Klinke in die Hand, sprechen miteinander, lernen voneinander und machen konkrete Vorschläge für eine bessere Zukunft. Sie entwickeln gemeinsam Projekte, um diese Zukunft entstehen zu lassen und übernehmen gemeinsam Verantwortung dafür. Utopisch? Nein! In Ausschnitten schon längst Realität. Wir haben das bei der Schulentwicklungsplanung der Stadt Frankfurt erlebt, bei Regional- und Dorfentwicklungen in Oberndorf Cuxhaven, den Bollertdörfern bei Göttingen, der Gemeinde Dötlingen bei Oldenburg, der Zukunftstadt Dresden, bei der Planung von Parks in Trier und Hamburg, bei der Stadt- und Kultur- und Demografieentwicklung in Oldenburg und in vielen weiteren Projekten. Mit neuen Haltungen und Werkzeugen ist es möglich. Bisher sind dies nur einzelne Leuchtturmprojekte. Das Ziel muss es aber sein, dass diese Formen der Zusammenarbeit zu neuen Standards werden.

Haltungen und Werkzeuge

Doch welche konkreten Haltungen und Werkzeuge braucht es für diese neuen, an der Kunst orientierten Formen der Zusammenarbeit? Worin müssen wir uns schulen und welche Kompetenzen müssen wir entwickeln, um weiter in diese Richtung zu gehen?

Haltungen
Prozessorientierung
Nicht das Ergebnis zählt, sondern der Prozess. Solange wir in einem guten offenen, transparenten und kokreativen Prozess miteinander haben, ist die wichtigste Voraussetzung zum Gelingen von positiver Gestaltung und Transformation geschaffen.

Ergebnisoffenheit
Mit einem guten Prozess sind alle Ergebnisse gute Ergebnisse. Selbst wenn alles ursprünglich Geplante scheitert und etwas ganz anderes entsteht. Denn ein ergebnisoffener, lebendiger Prozess sorgt dafür, dass nur die wirklichen starken und relevanten Ideen in die Umsetzung finden. Und häufig ist weniger mehr.

Reflexionsvermögen und Empathie
Das Vertreten der eigenen Meinung oder der Meinung der eigenen Gruppe wird zunehmend ein Anachronismus. Vielmehr kommt es darauf an, auch andere Stimmen zu hören, miteinander abzuwägen und sich gemeinsam ein neues Verständnis zu erarbeiten. Das geht nur, wenn wir die eigene Position reflektieren und anderen mit Empathie begegnen.

Fehler- und Lernkultur
Eigentlich müsste es Entwicklungskultur heißen: Fehler machen, aus ihnen lernen, weitermachen. So findet jede Entwicklung statt. Wenn wir aus Angst vor Fehlern immer wieder das Gleiche wiederholen, wird es keine Entwicklung und keine Transformation geben. Das ist eigentlich der einzige richtige Fehler, den man machen kann.

Radikale Transformationsbereitschaft
Es ist absurd etwas verändern zu wollen, ohne uns selbst zu verändern. Wenn wir uns stattdessen in unseren Prozessen, offen, lebendig und verletzlich zeigen, öffnen wir die Tore für echte Veränderung. Das ist eine tolle Erfahrung, die nicht selten als tiefgreifende Persönlichkeitsentwicklung wahrgenommen wird. Und es ist eine Belohnung für unsere Mühen: ein anderer Mensch, eine andere Institution oder eine andere Verwaltung geworden zu sein.

Werkzeuge
Prozessdesign und Verfahrensgestaltung
Jede Gesellschaft, jede Institution hat geregelte Verfahren. Auch die sind gestaltet worden. Deswegen kann man die auch wieder verändern. Viel von dem, was wir machen, hat gar kein geregeltes Verfahren. Hier können wir sehr frei agieren. In beiden Fällen gilt: wir sind den Prozessen und Verfahren nicht ausgeliefert, sondern wir können sie entsprechend der Notwendigkeit erfinden, erneuern, verändern. Wie und mit wem, wo und zu welchem Thema wollen wir arbeiten? Wie lange und mit welchen Mitteln und Methoden? Prozessdesign und Verfahrensgestaltung ist ein Handwerk, das wir erlernen können.

Innovations-, Kreativ- und Gestaltungsmethoden
Reden ist gut und wichtig, tatsächlich gestalten ist anders: inklusiver, offener, konkreter. Wenn wir konsequent darauf setzen, miteinander zu entwickeln, zu entwerfen, zu gestalten und zu bauen, haben wir am Ende die besseren Lösungen, die spannenderen Projekte und erleben uns als aktive, wirksame Akteure unseres Lebens. Partizipative und kokreative Entwurfs-, Design-, und Gestaltungsmethoden kann man erlernen. Zum Beispiel von Künstlern, Gestalterinnen, Designern und Planerinnen.

Prozessbegleitung, Facilitation und Moderation
Klassische Bürgerversammlungen sind häufig langweilig, entmächtigend, top-down. Man erlebt Rechtfertigungen, Angriffe, Forderungen, gegenseitige Beschämungen. Wenn jemand das Ganze begleitet, der oder die wertschätzend und offen moderiert, Sorgen, Nöten und Bedenken Raum gibt und mit allen nach Gemeinsamkeiten, Lösungen, Versöhnungen und guten Zukunftsbildern sucht, kann etwas anderes entstehen. Noch besser sind Veranstaltungen, bei denen man als Teilnehmende konkret wirken und gestalten kann, wahr- und ernstgenommen wird. Solche Veranstaltungen zu entwickeln und zu begleiten kann man ebenfalls lernen.

Gemeinwohl gestalten

Wir können unsere Gemeinwesen gestalten: egal zu welchem Thema, partizipativ und kokreativ. Dadurch verändern wir unsere Kultur, unsere Identität und ermöglichen Transformation, bis der alte Standard abgelöst ist und wir da sind, wo wir längst sein wollten. Wenn wir diese Arbeit machen, werden wir zu Bildhauern sozialer Prozesse.