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„Theater ist und bleibt die Kunst des Augenblicks“
Interview mit Stefan Hallmayer

Das Unterwegssein und der Wandel haben schon immer zum Theater Lindenhof in Melchingen gehört, das sich im TRAFO-Programm zu einem Ort weiterentwickelt hat, der auf viele Bedürfnisse der Menschen auf der Schwäbischen Alb reagieren möchte. Seit der Corona-Krise steht das Theater nun still, seine Existenz ist bedroht. Stefan Hallmayer über die Solidarität seines Publikums, nötige Planungssicherheit und warum die beste digitale Performance nichts nützt, wenn man Leute entlassen muss.

Herr Hallmayer, wie geht es dem Lindenhof-Theater in Zeiten der Corona-Krise? Ihre Bühne ist geschlossen. Arbeiten Sie zum Beispiel im Home-Office?
Stefan Hallmayer: Ja, aber ich bin auch viel im Theater und treffe mich dort mit meinen Vorstandskollegen. Es geht dabei nicht so sehr um Kunst, sondern um das Überleben unseres Theaters. Wir bekommen staatliche Zuschüsse zwischen 40 und 50 Prozent. Den Rest müssen wir über unsere Gastspiele reinbringen. Wir mussten immer rechnen in den vergangenen vierzig Jahren. Aber die Situation jetzt trifft uns hart. Wir brauchen das Tourneegeschäft und den Kartenverkauf zum Überleben.

Wie bleiben Sie mit Ihrem Publikum in Kontakt?
Hallmayer: Durch Transparenz. Newsletter, Homepage, Presse. Bisher gelang dies sehr gut über einen Spendenaufruf. Darin habe ich sehr ausführlich beschrieben, was die momentane Problematik ist und wie sehr uns die Lage an die Nieren geht. Die Leute sind an inneren Prozessen des Theaters interessiert. Wir hatten über 350 Spendeneingänge und zahlreiche Solidaritätsbekundungen: „Haltet durch! Wir freuen uns, wenn wir nächstes Jahr wieder kommen können!“ Dieser Zuspruch tut gut.

Viele Kultureinrichtungen arbeiten an digitalen Formaten. Ist das Internet auch für Sie ein Art Rettungsanker?
Hallmayer: Nein. Es ist ein unendlich nützliches Werkzeug. Die Möglichkeiten lange nicht ausgereizt. Aber es kann das Begegnungsereignis Theater nicht ersetzen. Dennoch: Das Entdecken von (Spiel-)Räumen ist die große Leidenschaft unserer Bühne. Da gehört der virtuelle Raum dazu. Natürlich ist das Internet als Spielstätte oder besser gesagt als interaktives Spielfeld ein spannendes Thema. Aber nur die Übertragung des Theaters ins Virtuelle funktioniert nicht eins zu eins. Theater ist und bleibt die Kunst des Augenblicks und der wird nicht stärker, indem ich ihn festhalte und ewig abrufen kann. Das Flüchtige ist einzigartig.

Wie meinen Sie das?
Hallmayer: Ich erzähle ihnen kurz eine Geschichte: Im Sommer 1996 hatten wir in Friedrichshafen am Bodensee eine Aufführung von Moliere’s L‘Avare in einer schwäbischen Fassung von Thaddäus Troll. Die Veranstaltung war in einem Zelt das ausgelegt war auf 500 Zuschauer. Es war ein heißer Sommertag. Das Publikum strömte in Scharen. Stühle wurden herbeigeholt. Die Leute saßen auf dem Boden, in den Fluren. Am Ende hatten wir 900 Zuschauer im Zelt. Auf der Bühne waren die Lachsalven des Publikums als Druckwelle physisch spürbar. Das war ein hochemotionales und ekstatisches Erlebnis für Künstler und Publikum zugleich. Die Verdichtung von Menschen unter einem Dach führte zu einer unbeschreiblichen Impulsübertragung. Diese irgendwie geartete Energieübertragung spielt immer eine Rolle. Man kann das Live-Erlebnis nicht so leicht ersetzen. Trotzdem beteiligen wir uns gerne am Entdecken und Erforschen von künstlerischen Formaten im virtuellen Raum, wenn wir die Mittel dafür bekommen. Aber wie Theaterperformance im Netz oder unter Pandemieauflagen wirklich gehen kann muss erforscht werden. Da kann man nicht einfach nur mal die Kamera draufhalten.

Da Sie wohl noch länger nicht spielen dürfen, arbeiten Sie an digitalen Formaten?
Hallmayer: Ja, aber das Problem ist die Finanzierung. Unser Kreditlimit ist ausgeschöpft. Ich kann nicht einfach sagen: Ich mache jetzt mehr online. Mir fehlen die Mittel dafür und auch die Leute, die in Kurzarbeit sind, nicht aber die Ideen. Nicht falsch verstehen: Ich freue mich über jedes Theater das in dieser Situation künstlerisch, atmosphärisch und ökonomisch erfolgreich performt. Aber wir können aktuell darüber nur nachdenken.

Welche Ideen verfolgen Sie konkret?
Hallmayer: Es gibt drei Ebenen:
1. Ich bin davon überzeugt, dass man unter den neuen pandemiebedingten Rahmenbedingungen, Theater neu denken und entdecken muss: Wir müssen in der neuen Spielzeit anderes Theater oder Theater anders machen. In kleineren Formaten, zum Beispiel oder Theater gleichzeitig in verschiedenen Räumen – hier schließe ich den virtuellen Raum mit ein – oder als Theaterspaziergang oder Stationen- und Landschaftstheater. Darin, neue Formate zu erfinden und neue Räume zu erschließen sind wir geübt. Der Spielplan für die nächste Spielzeit ist gemacht. Wir beginnen mit kleinen Formaten verteilt in verschiedenen Räumen im ganzen Haus. Planen zu Beginn des neuen Jahres wieder Produktionen in größerer Besetzung und verlagern zum Sommer hin das Spielgeschehen ins Freie. Auch eine thematische Auseinandersetzung mit der neuen Lebenswirklichkeit muss stattfinden.
2. Das Internet kann gerade für eine Bühne wie die unsere, die aus der Randlage heraus agiert, einen Beitrag zur Sichtbarkeit leisten. Und zwar in einer Dimension, die bisher nicht annähernd ausgelotet wurde. Diskurse, die wir in unseren Stücken anregen, können sich durch das Internet in den offenen Raum erweitern. Auch was den Partizipationsgedanken angeht, der uns wichtig ist. Wir werden für die nächste Spielzeit Formate entwickeln, die sowohl als auch können, analog und virtuell. Zum Beispiel werden wir das über TRAFO entwickelte Format der Erzählbar ins Digitale erweitern. Einmal im Monat führen wir in atmosphärischem Ambiente unserer Scheune ein Gespräch mit interessanten Menschen, die zu brisanten Themen etwas zu sagen haben. In Zukunft kann sich hier unser Publikum aus Belgien, Warschau oder London (ja, die gibt es tatsächlich), ebenso wie der Interessierte aus Rennfritzhausen, der keine Mitfahrgelegenheit organisieren konnte, zuschalten.
3. Netzperformance zur Überbrückung. Auch wenn wir im Moment keinen Spielbetrieb haben, bleiben wir natürlich für unser Publikum im Netz sichtbar. Wir ermöglichen es jede Woche eine Produktion in ganzer Länge auf YouTube zu sehen, unsere Schauspieler melden sich zu Wort, und, und, und... Uns geht es neben ein bisschen Unterhaltung dabei hauptsächlich um Transparenz in der Krisenzeit, damit unser Publikum weiß, wie es um den Lindenhof aktuell steht und was uns umtreibt.

Haben solche Formate für Sie auch einen künstlerischen Mehrwert?
Hallmayer: Dass die Presse jetzt virtuelle Formate, von denen die meisten nicht wirklich gut sind, feiert, ist nicht nachvollziehbar. Erstmal müssen doch neue kreative Formate entwickelt werden. Daran beteiligen wir uns gerne, aber das braucht Zeit und Ressourcen, und Ressourcen stehen zumindest unserem Theater im Moment nicht zur Verfügung. Besonders wir Theater auf dem Land sind gefährdet. In den ländlichen Gemeinden stehen die Zuschüsse für Theater unter den so genannten Freiwilligkeitsleistungen. Es ist zu befürchten, dass die im nächsten Jahr der Steinbruch für’s Sparen sein werden. Wir brauchen jetzt eine starke Kulturpolitik und wir brauchen die Solidarität zwischen Stadt und Land. Bei allem Reiz des Virtuellen: Die Vielfalt unserer Kulturlandschaft ist erstmal wichtiger als eine bessere digitale Performance.