Themen

Über die Idee von Gemeinwesenzentren
Stephan Beetz und Andrea Gaede

Wenn soziale Strukturen wie die Familie, Kirchen und Vereine weniger verlässlich werden, gewinnen Gemeinwesenzentren an Bedeutung. Sie entwickeln sich nicht nur in Stadtteilen mit prekären Lebensverhältnissen zu wichtigen Orten, an denen Menschen Netzwerke knüpfen, Kultur- und Bildungsangebote wahrnehmen und auch politisch tätig werden. Vor diesem Hintergrund forscht die Hochschule Mittweida zur Idee solcher Gemeinwesenzentren. Gemeinsam mit Partnern entwickelt die Hochschule Orte in Sachsen in diesem Sinne weiter. Denn ebenso wie Krankenhäuser oder die Trinkwasserversorgung sind sie als selbstverständlicher Bestandteil kommunaler und staatlicher Infrastruktur zu begreifen, schreiben Stephan Beetz und Andrea Gaede.

Die Idee von Gemeinwesenzentren entstand Ende des 19. Jahrhunderts. Sie etablierten sich als Orte, an denen es Bildungs- und soziale Unterstützungsangebote gab sowie kulturell-gesellige Veranstaltungen stattfanden (sogenannte Settlements). Stadtteilen mit vielen Menschen in prekären Lebensverhältnissen fehlte damals wie auch heute noch oft eine institutionell organisierte Zivilgesellschaft, die Verbesserungen herbeiführen kann. Ziel der Etablierung von Gemeinwesenzentren war deshalb die Entwicklung von Gemeinwesen, in denen Menschen öffentlich Verantwortung füreinander übernahmen. Nicht selten gingen von diesen Einrichtungen wichtige politische Aktivitäten zur Verbesserung von Lebensbedingungen aus. Heute würde man den Effekt als Community Capacity Building bezeichnen.Chaskin, Robert J. (2001): Building Community Capacity: A Definitional Framework and Case Studies from a Comprehensive Community Initiative. Urban Affairs Review 36(3), S. 291–323.1

Anknüpfend an diese Idee haben sich in mehr als hundert Jahren unterschiedlichste Formen von Gemeinwesenzentren entwickelt. Sie verfolgen verschiedene Ansätze für Gemeinwesenarbeit, die sich in Institutionen wie Nachbarschaftsheimen, Kinderläden, Familien(bildungs)- und Jugendzentren, Nachbarschafts- und Stadtteilläden wiederfinden, auch in Mehrgenerationenhäusern und Soziokulturellen Zentren.

Gemeinwesenzentren sind offene, multifunktionale Orte mit gut vernetzten und ausgebildeten Mitarbeiterinnen. Grundlegend für das Selbstverständnis ist: Die Zentren sichern eine personelle und institutionelle Kontinuität und bündeln verschiedene Angebote für Menschen mit unterschiedlichen Interessen und Bedürfnissen. Verglichen mit dem Konzept des Dritten Ortes, welches den informellen Charakter betont, ist für Gemeinwesenzentren die institutionalisierte Form wichtig, allerdings verbunden mit niedrigschwelligen Angeboten wie Cafés, offenen Treffpunkten oder Freiflächen.

Der Begriff des Gemeinwesens

So wenig gebräuchlich er sein mag, besitzt der Begriff des Gemeinwesens eine lange politologische und philosophische Tradition.May, Michael (2016): Soziale Arbeit als Arbeit am Gemeinwesen. Ein theoretischer Begründungsrahmen, Opladen.2 Trotz einer gewissen Vagheit in Bezug auf seine Definition (z.B. territorial oder netzwerkartig, lokal oder global, ‚gewachsen‘ oder ‚gestiftet‘) wird unter diesem Begriff eine Verantwortungsübernahme von Individuen für das Allgemeine verstanden.Negt, Oskar (2001): Arbeit und menschliche Würde, Göttingen.3

Im hier verwendeten Sinn bezieht er sich auf die gemeinsame Aushandlung und Organisation öffentlicher Angelegenheiten, die (neben staatlichen und marktlichen Angeboten) zum guten Leben der Bürger beitragen. Gemeinwesen sind (räumlich und sozial) umfassender als Nachbarschaften und (funktional) übergreifender als die eher verwaltungsrechtlich/politisch geprägte Gemeinde oder die wirtschaftlich bestimmte Genossenschaft. Trotz erhöhter gesellschaftlicher Dynamik, Mobilität, Flexibilisierung und Individualisierung sind solche Öffentlichkeiten für die Lebenschancen von Individuen/Einzelnen oft maßgeblich. Sie scheinen sogar an Bedeutung zu gewinnen, weil sich familiäre Unterstützungsnetzwerke als nicht ausreichend erweisen und sich Gelegenheitsstrukturen der Kommunikation verändern (Läden, Feste, Vereine, Kirchen, Parteien). Gemeinwesen benötigen Einrichtungen der Kommunikation und des Austausches.

Die Aktualität von Gemeinwesenzentren

Die Idee der Gemeinwesenzentren ist auch heute durchaus aktuell. Inzwischen nehmen auch Einrichtungen die Idee der Gemeinwesenorientierung (wieder) auf, die sich in den vergangenen Jahrzehnten eher als spezialisierte Bildungs- oder Unterstützungsanbieterinnen verstanden haben. In einem gemeinsamen Projekt zwischen der Hochschule Mittweida mit den sächsischen Volkshochschulen konnte beispielsweise herausgearbeitet werden, dass Orte, an denen Menschen sich begegnen und in Austausch treten können, nicht nur eine Basis für Bildung sind, sondern dass daraus stärkende Effekte für das Gemeinwesen entstehen können.Beetz, Stephan/ Bender, Pauline/ Haubold, Friederike (2018): Erwachsenenbildung im ländlichen Raum. Edition VHS Aktuell Beiträge zur Weiterbildung.4

Gemeinwesenzentren sind heute, entgegen der Situation ihrer ersten Gründungen, nicht nur in Orten und Stadtteilen aktiv, in denen vorwiegend Menschen in prekären Lebensumständen leben. Veränderungen in familiären, nachbarschaftlichen und betrieblichen Beziehungen machen Gemeinwesenzentren insgesamt zu einem wichtigen Ort von Netzwerkbildung, der Organisation von Bildung, Care-Arbeit/Unterstützung, kultureller und politischer Tätigkeiten, die substantiell miteinander verbunden sind. Sie führen die teilweise hochgradig ausdifferenzierten Bildungs-, Partizipations- und Hilfesysteme niedrigschwellig an konkreten Orten zusammen und können zudem in spezialisierte Angebote verweisen.Beetz, Stephan (2016): „Gemeinwesenorientierung und Wohlfahrtsverbände in ländlichen Räumen“, in: Kirche und Diakonie in der Nachbarschaft. Neue Allianzen im ländlichen Raum. Diakonie Texte 05.2016, S. 56–59.5

Gemeinwesenzentren (weiter-)entwickeln

Eine gemeinwesenorientierte Ausrichtung erfordert ein Umdenken in Bildungs-, Kultur- und Sozialeinrichtungen und die Bereitschaft, sich multifunktional aufzustellen. In der Zusammenarbeit von Mehrgenerationenhäusern, Volkshochschulen und Soziokulturellen Zentren wird in Sachsen gemeinsam der Ansatz der Gemeinwesenzentren vertieft und weiterentwickelt.Brinkmann, Anne/ Gintzel, Ulrich (2014): Einbindung der Mehrgenerationenhäuser in die soziale Infrastruktur des Freistaates Sachsen. Endbericht, Frankfurt/M.; Haselbach, Dieter/ Vosse, Corinna (2018): Soziokultur als demografischer Haltefaktor. Zur Wirkungsweise soziokultureller Zentren im ländlichen Gemeinwesen, Dresden; Klemm, Ulrich (2015): Politische Bildung an der VHS als Daseinsvorsorge, Landeszentrale für politische Bildung Sachsen Newsletter 2/2015, S. 36–39.6 Obwohl die bestehenden Einrichtungen mit Gemeinwesenorientierung hinsichtlich ihrer Förderstrukturen, Institutionengeschichte, Angebotsbreite, Personalstruktur u.v.m. ausgesprochen heterogen sind, weisen sie gemeinsame Merkmale auf: Multifunktionalität, Offenheit, Niedrigschwelligkeit, Professionalität, Vernetzung, vielseitige Projekt- und Beratungsangebote und vor allem die Orientierung am Gemeinwesen als Ganzes. Sie dienen dem (auch konfliktbehafteten und koordinierungsträchtigen) Austausch und Ausgleich zwischen unterschiedlichen sozialen Gruppen und stärken die lokale Zivilgesellschaft. Gemeinwesenzentren in diesem Sinne sind als selbstverständlicher Bestandteil kommunaler und staatlicher Infrastruktur zu begreifen – ebenso wie es medizinische Einrichtungen oder die Trinkwasserversorgung sind.

Der Landesverband Sächsischer Mehrgenerationenhäuser, der Landesverband Soziokultur Sachsen, der Sächsische Volkshochschulverband und die Hochschule Mittweida arbeiten gemeinsam daran, Orte für Gemeinwesenzentren in ländlichen und städtischen Räumen weiterzuentwickeln. Ziel ist es, eine ressort- und ebenenübergreifende Aufmerksamkeit für die Bedeutung von Gemeinwesenzentren zu erreichen und ein trägerübergreifendes Konzept zu entwickeln.

Wir bedanken uns in diesem Zusammenhang für die sehr fruchtbare Kooperation mit Mareen Düsberg und Matthias Abraham vom Landesverband sächsischer Mehrgenerationenhäuser, Anne Pallas vom Landesverband Soziokultur Sachsen und Prof. Dr. Ulrich Klemm vom Sächsischen Volkshochschulverband.

Literatur

Beetz, Stephan/ Bender, Pauline/ Haubold, Friederike (2018): Erwachsenenbildung im ländlichen Raum. Edition VHS Aktuelle Beiträge zur Weiterbildung. 
www.vhssachsen.de/fileadmin/user_upload/Dokumente/Projektdoku_Land_web.pdf

Beetz, Stephan (2016): „Gemeinwesenorientierung und Wohlfahrtsverbände in ländlichen Räumen“, in: Kirche und Diakonie in der Nachbarschaft. Neue Allianzen im ländlichen Raum. Diakonie Texte 05.2016, S. 56–59.

Brinkmann, Anne/ Gintzel, Ulrich (2014): Einbindung der Mehrgenerationenhäuser in die soziale Infrastruktur des Freistaates Sachsen. Endbericht, Frankfurt a.M.

Chaskin, Robert J. (2001): Building Community Capacity: A Definitional Framework and Case Studies from a Comprehensive Community Initiative. Urban Affairs Review 36(3), S. 291–323.

Haselbach, Dieter/ Vosse, Corinna (2018): Soziokultur als demografischer Haltefaktor. Zur Wirkungsweise soziokultureller Zentren im ländlichen Gemeinwesen, Dresden. 

Klemm, Ulrich (2015): Politische Bildung an der VHS als Daseinsvorsorge, Landeszentrale für politische Bildung Sachsen Newsletter 2/2015, 36-39. 

May, Michael (2016): Soziale Arbeit als Arbeit am Gemeinwesen. Ein theoretischer Begründungsrahmen, Opladen.

Negt, Oskar (2001): Arbeit und menschliche Würde, Göttingen.