Viele Kultureinrichtungen in ländlichen Regionen erfinden sich derzeit neu. Sie öffnen ihre Türen und laden die Menschen zum Mitgestalten ein. Wie die Beispiele aus TRAFO-Projekten zeigen, sind die Wege zu einem neuen Miteinander vielfältig. Eines aber verbindet diese Museen, Theater oder Bildungseinrichtungen: Sie können sich auf ihre künstlerische Expertise und ihre Erfahrungen aus der kulturellen Arbeit verlassen.
Kulturelle Institutionen, ob in Städten oder auf dem Land, befinden sich in einem steten Wandel. Seit jeher reagieren sie auf bedeutende gesellschaftliche Themen, an die sie ihre Arbeitsweisen, ihre Schwerpunkte und ihre Kommunikation anzupassen versuchen. Das waren im vergangenen Jahrzehnt die Kulturelle Bildung, die Integration, interkulturelle Fragestellungen und die Herausforderung, die digitale Welt zu verstehen, und die Möglichkeiten zu nutzen, die sie bietet.
Kultureinrichtungen in strukturschwachen Regionen, insbesondere mit abnehmenden Bevölkerungszahlen, erleben aktuell einen besonderen Wandel. Denn neben der Herausforderung, sich mit diesen gesellschaftlichen Zeitfragen auseinanderzusetzen, müssen sie sich weiteren Themen stellen, die unmittelbar mit Fragen der regionalen Entwicklung zu tun haben. Eine solche Frage, die derzeit viele ländliche Regionen beschäftigt, ist der Wegfall von Begegnungsorten. Orte, an denen sich Bürgerinnen im Alltag mit ihren Mitmenschen treffen, an denen sie sich austauschen und miteinander diskutieren, oder gemeinsame Projekte entwickeln und realisieren.
Gerade für diese Art der sozialen Nähe trotz größerer Abstände zwischen den Häusern und Dörfern stehen ländliche Räume, auch für einen stärkeren Zusammenhalt, für eine größere Hilfsbereitschaft. Das ist zumindest das Bild, das viele Menschen vom ländlichen Raum noch immer haben.
Allerdings berichten die Menschen in den Regionen, in denen TRAFO Projekte fördert, dass bei ihnen sowohl die Orte als auch die Gelegenheiten für Begegnungen weniger werden. Das Gefühl von Gemeinschaft schwindet mehr und mehr. Und deshalb geht es in den aktuellen Debatten auch um die Frage, was dem Wegfall solcher Begegnungsorte und Begegnungsgelegenheiten entgegengesetzt werden kann und welche Rolle bestehende Kultureinrichtungen dabei spielen können.
Kultureinrichtungen als Begegnungsorte
Vor diesem Hintergrund stellen sich immer mehr Kultureinrichtungen auf dem Land neben der Vermittlung von Inhalten einer neuen Aufgabe, nämlich ein Ort zu sein, der zum Mitmachen und Mitgestalten einlädt. Damit schaffen sie zwar keinen unmittelbaren Ersatz für die Lücke, die entsteht, wenn das Gasthaus oder der Dorfladen schließen. Sie sind auch keine Dritten Orte, wie sie der Soziologe Ray Oldenburg im Sinn hatte, Orte also, an denen man sich einfach nur zwanglos treffen kann, gerne aufhält und informell austauscht. Und sie übernehmen auch nicht die Aufgabe von Multifunktionshäusern, in denen nebeneinander viele verschiedene Nutzungen Platz haben, vom Vereinstreffen über den Sportkurs bis zum Seniorencafé. Einige Kultureinrichtungen, die zu Begegnungsorten werden, machen zwar solche Raumangebote, sie tun aber oft noch mehr als das. Sie greifen auf ihre künstlerische oder kulturelle Expertise zurück und sprechen eine inhaltliche Einladung aus: zur Mitgestaltung von Themen und Erzählungen, die das Miteinander in der unmittelbaren Umgebung betreffen.
Wie zum Beispiel das Oderbruch Museum Altranft in Brandenburg. Es bestimmt jedes Jahr ein neues Thema, zu dem die Menschen im Oderbruch eingeladen sind, ihr Wissen einzubringen und Inhalte beizusteuern. Seit 2016 wurden so Fragen rund um die Themen „Handwerk“, „Wasser“, „Landwirtschaft“, „Baukultur“ und „Menschen“ verhandelt. Jedes Jahresthema fügt der wachsenden Dauerausstellung im Museum ein neues Kapitel hinzu, das aus zahlreichen Treffen und zahlreichen Gesprächen mit den Menschen aus der Region wie Landwirtinnen, Vertretern der Wasserwirtschaft, Handwerkerinnen oder Architekten entsteht. Das Museum hat sich zu einer „Themenwerkstatt“ entwickelt, in der kontinuierlich gearbeitet wird, und in der sich Menschen unterschiedlicherer Professionen und verschiedenen Alters begegnen und mitarbeiten.
Das Theater Lindenhof auf der Schwäbischen Alb hingegen fragt die Menschen der Region zu vielen Anlässen und auf verschiedenen Wegen danach, was sie bewegt, nach ihren Geschichten und drängenden Fragen. Dazu gehören Erzählcafés im ganzen Landkreis, Theaterspielclubs für Schülerinnen, Jugendliche oder Erwachsene oder ein mobiler Postkasten, der in verschiedenen Orten aufgestellt wird und Fragen und Themenvorschläge an das Theater einsammelt. Die eingegangene Post bearbeitet das Theater mal schriftlich, mal theatral als Aktion auf der Bühne. Das Theater macht außerdem ein großzügiges Raumangebot: Es öffnet seine Türen für Dienstleistungen, die nichts mit seinen klassischen Aufgaben zu tun haben, die es aber ohne das Theater in der Region nicht mehr gäbe. So wird die Künstlergarderobe regelmäßig zum Friseursalon, das Kartenbüro verkauft neben Theater- auch Wanderkarten und gibt gelbe Säcke aus.
Kultureinrichtungen organisieren Begegnungsgelegenheiten
In anderen TRAFO-Regionen laden die beteiligten kulturellen Einrichtungen die Menschen ein, indem sie Gelegenheiten für Begegnungen außerhalb ihrer Häuser und außerhalb der Städte schaffen: Fliegende Salons, Dorfresidenzen, Bürgerbühnen auf dem Land, kokreative Werkstätten. In allen Fällen geht es den Einrichtungen darum, gemeinsam mit Akteurinnen in den Regionen – mit Initiativen, Vereinen, Ehrenämtlern, kleinen Kultureinrichtungen – Gelegenheiten für einen Austausch zu gestalten, die eine größere Öffentlichkeit vor Ort ansprechen. Es geht dabei nicht nur um Fragen der Programmplanung oder des Kulturmanagements. Der Weg hin zu den Veranstaltungen ist, wenn auch nicht das Ziel, so doch ein ebenso wichtiger Aspekt der Zusammenarbeit: In der Regel kommen die Themen für die Veranstaltungen aus den Regionen, und das Programm wird von Profis und Ehrenämtlern zusammen entwickelt.
Im Altenburger Land zum Beispiel wollen das Lindenau-Museum, die Kreismusikschule, das Theater Altenburg Gera und das Museum Burg Posterstein gemeinsam mit dem Landkreis zu einer neuen Diskussionskultur in der Region beitragen. Der Fliegende Salon, der an die aufklärerische Tradition der Salonkultur anknüpft, findet in Kirchen, Gemeindesälen, Gasthöfen, in privaten oder auch in verlassenen Räumen im gesamten Landkreis statt. Er will ein Ort für Diskussionen und den kreativen Austausch zu Themen sein, die die Menschen vor Ort bewegen. Gemeinden, Vereine und lokale Initiativen entscheiden gemeinsam mit den Kultureinrichtungen des Landkreises, welche Fragen die Salons in welcher Form verhandeln.
In Rendsburg-Eckernförde hingegen fragen fünf große Einrichtungen – das Nordkolleg Rendsburg, das Freilichtmuseum Molfsee, die VHS Rendsburger Ring, die Rendsburger Musikschule und das Schleswig-Holsteinische Landestheater – nach ihren künftigen Aufgaben: Wie können wir gemeinsam besser für die Gesellschaft wirken? Welche Verantwortung haben wir für das kulturelle Leben außerhalb der Städte? Gemeinsam mit Vereinen, Künstlern und Gemeindevertreterinnen erarbeiten sie in kokreativen Werkstätten Veranstaltungen, Aufführungen und Bildungsangebote für die 165 Gemeinden des Landkreises. Im Projekt Kreiskultur geht es auch darum, langfristige Partnerschaften aufzubauen, und Ideen und Angebote zukünftig gemeinsam zu entwickeln.
All diese Beispiele zeigen: Fragen des Austauschs und der Begegnung stellen sich für die Kultureinrichtungen in kleineren Städten und ländlichen Regionen in besonderer Weise. In den TRAFO-Regionen sehen wir verschiedene Ansätze, wie Kultureinrichtungen darauf reagieren. Sie schaffen Orte und Gelegenheiten, damit Interessierte zusammenkommen und das gesellschaftliche Miteinander gemeinsam diskutieren und gestalten. Das ist es vor allem, was ihren besonderen Wert für den gesellschaftlichen Zusammenhalt vor Ort ausmacht.
Erschienen am 09.07.2020.