Dritte Orte haben in den vergangenen Jahren nicht von ungefähr eine Renaissance erlebt: Als alltägliche Treffpunkte der Begegnung beleben sie Gemeinden und Gemeinschaften. Das Konzept der Sozialen Orte, wie es im gleichnamigen Forschungsprojekt der Universität Göttingen und des SOFI e.V. entwickelt wird, geht darüber hinaus und beschäftigt sich mit der Frage, was Menschen bewegt, Orte der Begegnung und des Miteinanders aufzubauen. Denn solche Sozialen Orte sind für eine Gesellschaft überlebenswichtig: Sie stiften Zusammenhalt und sorgen für Austausch und Solidarität unter den Menschen. Wie aber wird ihre Zukunft nach der Corona-Krise aussehen? Wird das erlernte Social Distancing zu einem gesellschaftlichen Trend? Geraten Soziale Orte dauerhaft in eine Krise oder werden wir solidarischer sein? Claudia Neu wagt einen Ausblick auf unser soziales Miteinander nach der Pandemie.
Die Corona-Pandemie macht uns schmerzlich bewusst, wie sehr wir das soziale Miteinander vermissen. Es sind aber nicht nur die Treffen unter Freunden, das spontane Grillen mit Nachbarn oder das Stadtteilfest, die uns fehlen. Auch der Theaterbesuch, das Rockkonzert oder das wöchentliche Fußballtraining fallen weg. Wir spüren, dass wir, bei aller Gemütlichkeit auf dem Sofa, Kontakte in der Öffentlichkeit brauchen. So sehen wir in diesen Tagen mehr denn je, dass Gesellschaft auf kulturelle und soziale Infrastrukturen wie Cafés, Literaturhäuser oder Vereinsheime angewiesen ist, auf Orte der Begegnung und des Gesprächs.
Infrastrukturen des Zusammenhalts
Doch viele Gemeinden haben in den vergangenen Jahrzehnten nicht nur Kultureinrichtungen und Jugendclubs verloren, sondern auch in ihren Ortskernen Ladenlokale und Gastwirtschaften. Vielen öffentlichen Schwimmbädern und Bibliotheken droht die Schließung wegen Unterfinanzierung und Renovierungsrückstau. Es entstehen infrastrukturelle und sozialstrukturelle Lücken, die nicht einfach wieder gefüllt werden (können). Denn mit ihrem Verlust gehen nicht nur Begegnungsorte im öffentlichen Raum verloren, sondern es fehlt auch an Ankerpunkten des bürgerschaftlichen Engagements. Ohne Kirche kein Kirchenchor. Ohne Schule kein Schulfest. Es geht nicht nur um Freizeitaktivitäten, verhandelt wird auch, wer diese sozialen Leerstellen besetzt. Wir alle wünschen uns kreative Jugendliche, die mit Enthusiasmus ihren Jugendclub umbauen. Was aber, wenn die einzigen Ansprechpartnerinnen für Jugendliche „braun“ sind? Wir laufen Gefahr, dass viele Städte und Dörfer zunehmend nicht nur Orte der Begegnung verlieren, sondern auch ihre soziale Mitte.Kersten, Jens/Neu, Claudia/Vogel, Berthold (2013): Lichtungen sozialer und räumlicher Strukturen, in: Kirche im ländlichen Raum, H. 1, Altenkirchen, S. 4–8.1
Dritte Orte – Soziale Orte
Verständlich ist daher die Suche nach Modellen, die den öffentlichen Raum (wieder-)beleben, bürgerschaftliches Engagement binden und die Demokratie stärken. Dabei geraten die öffentlichen Begegnungsorte in den Fokus des wissenschaftlichen und politischen Interesses. Diese öffentlichen Orte wurden erstmalig von Ray Oldenburg 1989 in seinem Werk The Great Good Place begrifflich als „Third Places“ gefasst.Oldenburg, Ray (1989): The Great Good Place: Cafes, Coffee Shops, Community Centers, Beauty Parlors, General Stores, Bars, Hangouts, and How They Get You Through the Day. New York.2 Völlig unabhängig vom „First Place“, dem Zuhause, und dem „Second Place“, dem Arbeitsplatz, sind diese „Dritten Plätze“ gemeinschaftlich nutzbarer, öffentlicher Raum. Allerdings sind Oldenburgs „Dritte Orte“ eher unspektakulär: Cafés, Friseursalons, Supermärkte. Sie haben eine niedrige Zugangsschwelle und dienen hauptsächlich der ungezwungenen Kommunikation – auch über Milieugrenzen hinweg. Sie sind alltägliche Treffpunkte, die gern auch von Stammpublikum frequentiert werden: die klassische Eckkneipe, der Tante-Emma-Laden.
Das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Projekt „Das Soziale-Orte-Konzept“ (Claudia Neu/Universität Göttingen und Berthold Vogel/SOFI e.V.) beschäftigt sich seit 2017 mit der Frage, wie auch unter schwierigeren demografischen, räumlichen oder ökonomischen Bedingungen gemeinsame Aktivitäten generiert werden, was Menschen bewegt, Orte der Begegnung und des Miteinanders, Soziale Orte genannt, aufzubauen, um gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken. Das Forscherteam hat in zwei Landkreisen – Waldeck-Frankenberg und Saalfeld-Rudolstadt – Bürgerinnen gebeten, „ihre“ Sozialen Orte zu nennen. In Hessen zählen dazu etwa eine als Genossenschaft geführte Dorfkneipe (Dalwigksthal), ein sanierter Marktplatz mit Dorfladen (Löhlbach), aber auch die vielfältigen Maßnahmen in der Flüchtlingshilfe, die sich zu einem Gemeindeentwicklungsprozess ausgeweitet haben (Diemelstadt). Im Thüringer Landkreis sind es beispielsweise die Stadtbegrünungsinitiative „Rudolstadt blüht auf“, Freiflächenarbeit mit Jugendlichen in Saalfeld-Beulwitz, aber auch das Aktionsbündnis „Zukunftswerkstatt Schwarzatal“ oder der „Denkort Demokratie“ im Schwarzburger Schloss, die für Bürger einen Sozialen Ort darstellen.Arndt, Moritz et al. (2020): Soziale Orte. Ein Konzept zur Stärkung lokalen Zusammenhalts, WISO diskurs 5/2020, Bonn.3 Den einen exemplarischen Sozialen Ort gibt es also nicht. Trotz aller Verschiedenartigkeit der Fallbeispiele wird dennoch klar, dass Soziale Orte Dritte Orte der Begegnung im Oldenburgschen Sinne sind, aber zugleich weit darüber hinaus gehen. Die untersuchten Sozialen Orte sind eher keine unprätentiösen Alltagsorte, an denen Menschen einfach so vorbeikommen, vielmehr werden sie von hybriden Akteurskonstellationen (Zivilgesellschaft, Verwaltung, Unternehmen), die sich einer konkreten Aufgabe gestellt haben, initiiert. Manchmal aus einem empfundenen (infrastrukturellen) Mangel heraus, zumeist „weil etwas getan werden musste“. Überraschend ist, dass diese Sozialen Orte nicht nur reale Orte oder Projekte, sondern vielmehr dynamische Prozesse sind, die über sich selbst hinausweisen, indem sie offen unterschiedliche Mitspieler ansprechen und Netzwerke bilden. Indem die Akteurinnen nicht ein (gefördertes) Projekt „abarbeiten“, sondern einen Prozess entwickeln, sich dabei unterstützen, Probleme anzugehen und Ideen (weiter-) zu entwickeln. „Rudolstadt blüht auf“ zum Beispiel erweitert sein Stadtbegrünungsprogramm mehr und mehr auch auf Stadtteilfeste, Denkmalpflege und Naturschutz. Oder Diemelstadt: Im Anschluss an die vielfältigen Aktivitäten zur Flüchtlingshilfe starteten Bürgermeister und Verwaltung gemeinsam mit der Bürgerschaft einen Dorfmoderationsprozess „Vision 2030 Diemelstadt“.
Und um es noch einmal zu betonen: Alle Sozialen Orte sind auf eine funktionierende Infrastruktur angewiesen. Soziale Orte entwickeln sich nicht gegen oder ganz ohne öffentliche Strukturen, sondern mit ihnen.
Begegnung(sorte) nach Corona
Und plötzlich standen alle Räder still. Corona stellt die Frage nach Begegnung, Solidarität und gesellschaftlichem Zusammenhalt neu. Begegnung wird zur Gefahr, Solidarität endet an der Wohnungstür, gesellschaftlicher Zusammenhalt findet wieder ganz klar innerhalb nationalstaatlicher Grenzen statt. Was heißt dies nun für Soziale Orte, die ja vom Mitmachen und Miteinander leben? Die traurige Vermutung: Nicht wenige beliebte Begegnungsorte wie Kinos, Cafés oder unabhängige Bühnen werden die Krise nicht überstehen. Darüber hinaus belegen aktuelle Umfragen, dass auch in der Zeit nach Corona fast zwei Drittel der Befragten planen, weniger auf Konzerte, ins Theater oder ins Kino zu gehen, 26 Prozent wollen ganz darauf verzichten.Vgl. McKinsey & Partner: „Corona: 42% der Deutschen sorgen sich um ihren Urlaub“, Pressemitteilung 7. Mai 2020.4 Es scheint so, dass viele den Kurs des persönlichen Rückzugs (my home is my castle), der sich durchaus auch vor Corona schon als gesellschaftlicher Trend abzeichnete, beibehalten wollen. In der Konsequenz führt dies zu weniger öffentlichem Engagement und helfenden Händen, leeren Theatern, Kaffeehäusern und Kinosälen. Insbesondere bleibt abzuwarten, ob das Abstandhalten, das Social Distancing, in Zukunft zu einer weiteren gesellschaftlichen Polarisierung führen wird. Bereits heute bleiben soziale Milieus in deutschen Großstädten gern unter sich, Kinder unterschiedlicher Herkunft begegnen sich ohnehin kaum noch in der Schule oder Freizeit, Nachbarschaften werden sich so immer ähnlicher.Helbig, Marcel/Jähnen, Stefanie (2018): Wie brüchig ist die soziale Architektur unserer Städte? Trends und Analysen der Segregation in 74 deutschen Städten, WZB discussion paper.5 Wie wird es um den sozialen Zusammenhalt bestellt sein, wenn Verteilungskonflikte im Zuge einer möglichen Weltwirtschaftskrise aufbrechen?
Oder ist es so, wie der Kassler Soziologe Heinz Bude vermutet, dass wir aufgrund der Pandemie-Krisen-Erfahrung gar nicht anders können als solidarischer zu sein? Dass uns die Erfahrung der eigenen Verletzlichkeit empfänglicher macht für die Not der anderen?Vgl. Heinz Bude über Corona: „Weltgeschichtliche Zäsur“, 23.04.2020, NDR Kultur.6 Wir werden abwarten müssen, wie resilient sich die Sozialen Orte in Krisenzeiten erweisen. Ich erlaube mir, optimistisch zu sein, denn ihre Fähigkeit sich prozesshaft an neue Bedingungen und Herausforderung anzupassen, auf Akteursnetzwerke zu setzen und nicht auf Solospieler, erhöht ihre Überlebenschancen. Noch ein Umstand könnte die Sozialen Orte stützen: Das Bewusstsein für den Wert öffentlicher Infrastrukturen wie Krankenhäuser, Schulen und Kitas ist in der Krise gewachsen. Die Gesellschaft ist sich ihrer Staatsbedürftigkeit (Berthold Vogel) sehr bewusst geworden.
Wie weiter?
Corona zeigt eindringlich, dass wir auf ein soziales Miteinander angewiesen sind, dass wir trotz aller digitalen Lösungen auf unmittelbare persönliche Kontakte nicht verzichten wollen. Das öffentliche Leben wird durch den Zusammenbruch vieler kultureller Einrichtungen leiden, umso wichtiger ist es, Menschen beim Aufbau Sozialer Orte zu unterstützen. Mehr denn je ist es notwendig, institutionelle Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für die Entstehung dieser Begegnungsorte, Akteursbündnisse und eigenständigen Prozesse zu schaffen. Es braucht ein Soziale-Orte-Konzept (in Ergänzung zum raumordnerischen Zentrale-Orte-Konzept), das Menschen vor Ort darin unterstützt, ihr Lebensumfeld bedarfsgerecht, prozessorientiert, vernetzt und nachhaltig zu entwickeln.Vgl. Kersten, Jens/Neu, Claudia/Vogel, Berthold (2017): „Das Soziale-Orte-Konzept“, in: Umwelt- und Planungsrecht, Heft 2/2017, Heidelberg, S. 50–56.7 Dafür sind starke lokale und demokratische Institutionen und Infrastrukturen unabdingbar. Sie ermöglichen den Bürgerinnen Vorsorge und Teilhabe und geben ihnen Raum, eigene Ideen zu entwickeln, um zukunftsweisende Strukturen des Zusammenhalts und der Demokratie zu entfalten.Vgl. Kersten, Jens/Neu, Claudia/Vogel, Berthold (2019): Politik des Zusammenhalts. Über Demokratie und Bürokratie, Hamburg.8
Erschienen am 09.07.2020.