Das Land und die Kleinstadt als Bühne großer Literatur. Was können wir aus der Literatur des 19. Jahrhunderts und aus aktuellen Büchern über das Leben auf dem Land erfahren? Prof. Dr. Werner Nell von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg über Grenzen und große Träume, Zumutungen und das kleine große Glück.
Herr Prof. Dr. Nell, viele Menschen, die an den ländlichen Raum denken, haben Bilder von kleinen Dörfern und idyllischer Natur vor den Augen. Viele Menschen leben aber gerade auch in kleinen Städten, die nicht mehr als 20.000 Einwohner haben. Welche Bilder dieser kleinen Städte haben Sie in Ihrer Forschung gefunden?
Werner Nell: Viele Texte handeln vom kleinen Glück, nach dem Motto „Hier bin ich Mensch, hier darf ich es sein“, zugleich aber auch von der Kleinstadt als Ort der Gefährdung und Verformung, und nicht zuletzt vom Träumen und vom Nachdenken über die großen Themen der Zeit. Der Kulturwissenschaftler Hermann Glaser hat in seinem Kleinstadt-Buch (1969) von „Furchenglück und Sphärenflug“ gesprochen. Die Kleinstadt wird vielfach als Rückzugsort beschrieben, der aber auch Raum und Rahmen zur Entfaltung bietet. So gibt es auch Texte, die sich in die Unendlichkeit der Welt hinaus träumen. Gute Literatur ist kein Abbild, sie arbeitet aber mit den Klischees, die über das Leben in der Kleinstadt erzählt werden. Bei Wilhelm Raabe, Adalbert Stifter oder Guy de Maupassant ist die Kleinstadt ein weiterer Aushandlungsort für die Fragen der Zeit, in der auf überschaubarer Bühne gesellschaftliche Protagonisten wie die Kirche, das Rathaus – also die Politik – oder Vereine – die Gesellschaft – und Vertreter unterschiedlicher bürgerlicher Schichten aufeinanderstoßen und sich arrangieren müssen. Heute wird das Leben in einer Bürgergesellschaft ja von verschiedenen Seiten auch wieder in Frage gestellt. Da kann es nützlich sein, an das Entstehen und die Bedingungen einer bürgerlichen Gesellschaft zu erinnern, wie sie in diesen Büchern geschildert werden.
Was können wir aus der Literatur für aktuelle Debatten über die Gegenwart und Zukunftsfähigkeit ländlicher Räume erfahren?
Nell: Man kann in der Literatur erkennen, wie sich unsere Gesellschaft seit dem späten Mittelalter organisiert hat. Man sieht, wie Vielfalt arrangiert wird, politisch, gesellschaftlich, kulturell. Die Kleinstadt liefert den Rahmen, der einhegt, manchmal einengt, aber in dem das Zusammenleben auch zivilisiert wird. Ralf Dahrendorf hat einmal von der ärgerlichen Tatsache der Gesellschaft gesprochen. Im Kleinstadt-Kosmos wird sie als Zumutung und Chance erkennbar. Unsere Gesellschaft lebt davon, dass es Bürgerinnen gibt, die sich ihrer selbst bewusst sind. Wie sich diese Figur des Bürgers entwickelt hat, das können wir aus der Literatur des 19. Jahrhunderts erfahren. Für diejenigen, die sich mit Gottfried Keller oder Wilhelm Raabe, Anthony Trollope oder Honoré de Balzac beschäftigen, zeigen ihre Geschichten, wie die Kleinstadt als Hort und Zumutung der kleinen Gemeinschaft das individuelle Leben prägt.
Viele der von Ihnen untersuchten Texte beschreiben nicht nur moderne Lebenswelten und aktuelle Zeitumstände, sie versuchen sich auch an Deutungs- und Gestaltungsvorschlägen. Was sind Ideen und Überlegungen zum Leben auf dem Land, soweit sie von der Kleinstadt-Literatur ausgehen?
Nell: Es gibt Modelle aus der Literatur des 19. Jahrhunderts, die jetzt wieder aufgenommen werden, wenn Sie sich Arnold Stadlers oder Robert Seethalers Bücher anschauen. Erzählt wird, wie das Ich mit anderen Menschen ein auskömmliches Leben gestaltet kann. Wo liegen die Fallen? Wo aber liegt auch das kleine Glück? Das Leben muss im Zusammenhang mit anderen unter gemäßigten und somit mäßigenden Bedingungen geführt werden. Das sind die Grenzen des von mir schon erwähnten „Furchen-“, mitunter auch „Spießerglück“ genannten Musters. Dauerhaftigkeit und Zusammenhang, aber eben auch eine gewisse Form der Reflexivität braucht dieses Leben, und diese Bedingungen werden in guten Büchern über das Leben in kleinen Städten inszeniert.