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Herausforderungen für einen kulturpolitischen Paradigmenwechsel
Kristina Volke

Die Kunst- und Kulturwissenschaftlerin Kristina Volke beschreibt, warum die größte Chance für Kulturinstitutionen außerhalb der Großstädte darin besteht, einen gesellschaftlichen Raum für Kommunikation, Interaktion und Interessenaushandlung zu schaffen.

Seit der Wiedervereinigung hat sich in Deutschlands kulturellen Strukturen ein grundlegender Umbau vollzogen, dessen Gründe nicht zuerst in der Kultur selbst, sondern in ihren gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu suchen sind: Der demografische Wandel unter den Bedingungen einer globalisierten und technisierten Welt verändert nicht nur die Voraussetzungen für, sondern auch die Anforderungen an Kulturpolitik und kulturelle Institutionen und -Akteure. Ein wesentlicher Trend ist dabei die wachsende Gegensätzlichkeit zwischen urbanen Zentren und ländlichen Räumen.

Für die Kultur in den ländlichen Gebieten ist diese Entwicklung vielerorts verheerend. Während die Großstädte und urbanen Ballungszentren kulturell aufrüsten können, werden die kleinen und mittleren Kulturbetriebe auf dem Land von Einschnitten begleitet, die längst an die Substanz gehen. Das einst flächendeckende Netz von Bühnen, Kultur- und Konzerthäusern, Kulturzentren, Archiven und Museen ist in vielen ländlichen Gebieten Deutschlands durch Schließung, Fusion und Reduktion auf wenige unzusammenhängende Häuser geschrumpft.

Aber das ist bei weitem nicht das einzige Problem. Vielmehr hat die Ausdünnung der wirtschaftlichen, sozialen, der Verkehrs- und Bildungs- und nicht zuletzt der eigenen Infrastruktur einen doppelten Effekt auf die verbliebenen Kulturbetriebe. Sie stehen nicht nur vor der Aufgabe, viel größere Gebiete „bedienen“ zu müssen, sondern sie treffen bei der Bevölkerung, für die sie spielen und ausstellen, auf teilweise andere Kulturbedürfnisse als die klassischen bildungsbürgerlichen, die in den Städten vorherrschen.

Dabei geht es den Kultureinrichtungen vor allem darum, innerhalb einer Gesellschaft, in der das Interesse an Kunst und Kultur von viel dringlicheren Bedürfnissen überlagert wird, ein Gefühl für Relevanz zu erzeugen oder, so könnte man es etwas weniger neutral ausdrücken, einen Platz im Leben derer zu erobern, deren Interesse so dringend benötigt wird. Nicht nur, weil die Institutionen nicht als Selbstzweck Kultur betreiben, sondern qua Definition Publikum und Nutzerinnen brauchen um existieren zu können, sondern auch, weil Kunst und Kultur eine gesellschaftsgestaltende Kraft haben, die gerade in den Regionen von Nöten ist, wo sie nur wenig gefördert wird.

Ein Blick auf die am stärksten betroffenen ländlichen Regionen Deutschlands zeigt, dass der gesellschaftliche Wandel mehr als nur einen Verlust an Lebensqualität mit sich bringt. Die infrastrukturelle Verarmung der ländlichen Regionen wird allzu oft von einer lebensweltlichen Verarmung begleitet. Vor allem, wenn wir in die weiten ländlichen Regionen schauen, sehen wir immer stärker entkoppelte, den inneren Zusammenhang verlierende, zukunftslose, in unverbindlichem Nebeneinander existierende Orte, in denen klassische politische Konzepte von Demokratie als Beteiligungspolitik häufig nicht mehr greifen.

Das hat nicht nur mit den schwindenden Bevölkerungszahlen, sondern vor allem mit dem Verlust an Möglichkeiten individueller Sinnstiftung über bezahlte und anerkannte Arbeit, mit dem Mangel an Perspektiven für junge Menschen und der Auflösung familiärer wie gesellschaftlicher sozialer Strukturen und mit fehlender Einbindung in ökonomische und politische Entscheidungsprozesse zu tun. Und schließlich mit dem zwar fatalistischen, aber nicht ganz unberechtigten Gefühl, dass die Welt sich längst der Beeinflussbarkeit durch den Einzelnen entzieht, wo die verbliebenen Gestaltungsspielräume schon zu klein sind, um auch nur die wichtigsten Grundlagen des Gemeinwesens zu sichern.

Genau hier aber liegt die Chance für Kunst und Kultur. Kulturelle und künstlerische Prozesse verlangen und begünstigen gemeinsames Handeln, Verständigung, Engagement, Disziplin, Kreativität. Es geht um bedeutungsvolle Kommunikation (Relevanz) über Identität und Lebensentwürfe, Herkunft und Zukunft, über Leben und Tod – pathetisch klingende Klauseln, die allerdings das Potential beschreiben, das Kunst und Kultur vom Alltäglichen unterscheidet und deshalb so wertvoll macht. Künstlerisches Handeln eröffnet Räume von Interaktion und Kommunikation, von Interessensaushandlung und -auseinandersetzung. Es erfordert Engagement und ermöglicht Teilhabe und stärkt damit unabdingbare Voraussetzungen für ein demokratisches Gemeinwesen, das allein weder durch Verfassung, noch durch staatliche Kontrolle hergestellt werden kann, sondern als kommunikativer Prozess immer wieder neu erlernt und praktiziert werden muss. Diese im Grunde aufklärerischen Prozesse zu initiieren und selbst Raum dafür zu werden, ist die größte Chance für kulturelle Institutionen außerhalb der Großstädte – und stellt sie zugleich vor nahezu unlösbare Aufgaben, die zu erfüllen sie nicht ausgestattet sind.

Trotzdem: Zahlreiche Akteure zeigen seit langem, wie es gehen kann. Erfolgreich ist, wer die Lage ernst nimmt und sich in allen Entscheidungen an der Frage ausrichtet, FÜR WEN hier Kultur produziert und angeboten wird und welche Rolle Kultur im Leben der Menschen eigentlich spielen soll. Nicht nur Theater, Orchester und Museen, auch Bibliotheken, Musikschulen und Ensembles, ehrenamtliche Initiativen und Vereine, die sich in der Wahl ihrer Themen und Sujets an lokales Wissen, regionale Traditionen und die konkrete Lebenswelt der Bevölkerung ankoppeln und dafür sorgen, dass die Hemmschwellen durch Teilhabe an Produktionsprozessen abgebaut werden, werden zum Nukleus nicht nur des kulturellen Lebens in ländlichen Regionen. Strategische Kooperationen und institutionalisierter Wissenstransfer zwischen den Beteiligten, neue Methoden der Teilhabe und der Mitbestimmung sind von Nöten, wenn die Institutionen eine Zukunft haben wollen. Der größte Handlungszwang besteht aber für Politik und Verwaltung. Weit mehr als die finanzielle Obhut obliegt ihnen dabei die Willensbildung, für die und mit den kulturellen Akteuren nach einer Zukunft zu suchen, in der nicht nur Kultur und ihre Institutionen erhalten werden können, sondern in der diese selbst als Mittelpunkt von Gemeinschaften ihre Gestalter werden.