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Nachhaltig lebenswerte Orte
Martin Fritz

Martin Fritz, langjähriger Leiter des Österreichischen Festivals der Regionen, beschreibt, welche Rolle Kultur in ländlich geprägten Räumen bei der Gestaltung einer zeitgemäßen Lebensumgebung spielen kann und welche Kräfte es braucht, um nachhaltig lebenswerte Orte zu entwickeln.

Wenn es um die kulturelle Entwicklung ländlicher Räume geht, kommen schnell Antagonismen ins Spiel. Meist stehen die Gegensätze von „Stadt“ und „Land“ oder „Großstadt“ und „Kleinstadt“ konstitutiv am Beginn von Förder-und Entwicklungsprogrammen, die sich schwerpunktmäßig mit dem Raum außerhalb der urbanen Zentren beschäftigen. Der dicht versorgten, kulturell vielfältigen Stadt wird ein ausgedünnter – oder von der Ausdünnung bedrohter – ländlicher Raum gegenübergestellt, der bestenfalls im Bereich traditioneller kultureller Ausdrucksformen „mithalten“ könne.

Wie unscharf derartige Abgrenzungen geworden sind, mag jedoch allein der Umstand illustrieren, dass es für die Inanspruchnahme eines zeitgemäßen Filmangebots nur mehr einer funktionierenden Internetanbindung bedarf. Zudem negieren die rein geografischen Gegenüberstellungen die – auch in den Städten – scharf gezogenen Grenzen zwischen den Bildungsschichten und die sozialen Hindernisse, die allerorts die Inanspruchnahme kultureller Angebote erschweren.

Wer entwickelt Kultur und Gesellschaft?

Aus der Sicht des Autors ist die oft problematisierte Gegenüberstellung zwischen den kulturellen Kräften „vor Ort“ und den Angeboten „von außen“ nicht in diesem Maße gravierend, wie die Frage, welche Akteur/innen denn ganz generell mit der kulturellen Entwicklung von Orten identifiziert werden. Stellt man die Frage nach der Mitwirkung daher nicht entlang einer vermeintlichen Grenze zwischen „innen“ und „außen“, sondern entlang inhaltlicher, künstlerischer und politischer Absichten, wird schnell klar, dass es immer eine gemeinsame Anstrengung der innovativen lokalen und überregionalen Kräfte geben muss, um nachhaltig lebenswerte Orte zu schaffen. Kulturelle Aktivitäten können an diesem Punkt gewinnbringend ansetzen, dies jedoch nur, wenn man Kultur nicht als Abgrenzungsmerkmal, sondern als Kommunikations- und Kooperationschance begreift. Dabei hilft es, Lehren aus einer zeitgenössischen Kunstpraxis zu ziehen, der es – allerspätestens seit den Zeiten Joseph Beuys’ – darum ging, sich in Beziehung zu anderen Äußerungen in Politik und Gesellschaft zu setzen. Aus dieser Perspektive stellt sich dann nicht zuerst die Frage nach Herkunft und Wohnort, sondern die Nachfrage sollte den spezifischen Kenntnissen und Kompetenzen der Akteur/innen gelten, und wie genau diese für Kultur- und Gesellschaftsentwicklung im ländlichen Raum eingesetzt werden können.

Eine zentrale Rolle für das Gelingen solcher Querbeziehungen spielen oft jene Kräfte, die sich nicht in den üblichen Auflistungen lokalen kulturellen Selbstbewusstseins finden: Denn neben den mittlerweile häufig in Kunstprojekte integrierten Chören, Musikkapellen, Theatervereinen, Schülergruppen und Einzelkünstler/innen existieren in vielen Orten Sozialinitiativen, Agenda 21-Gruppen, Frauentreffpunkte, Flüchtlingshilfsorganisationen oder Umweltbewegungen; ganz zu schweigen von den überall sich engagierenden Personen, die – geprägt von urbanen und internationalen Erfahrungen – aus familiären oder beruflichen Gründen wieder an ihre Herkunftsorte zurückgekehrt sind.

Temporär versus Nachhaltig?

Nachhaltig wirksame Konstellationen können entstehen, wenn informierte Kräfte auf Beteiligte „von außen“ treffen, mit denen sie das Interesse an der Gestaltung einer zeitgemäßen Lebensumgebung verbindet. Beim Österreichischen Festival der Regionen 2007 traf etwa ein überregional agierendes freies Radio auf eine Kultur- und Sozialinitiative vor Ort, vorerst nur mit dem Ziel, ein temporäres Festivalradio zu betreiben. Für diesen Plan diente der Initiative ein sehr kleines Straßenlokal – direkt an einer Hauptstraße – als Stützpunkt. Die Festivaldynamik verschaffte der lokalen Vernetzung zusätzliche Impulse, und es verwunderte nicht, dass sich bald Beteiligte dafür engagierten, das Radio dauerhaft zu etablieren. Als einige Zeit nach dem Festival ein in der Nähe leerstehendes Haus von einem kulturell aktiven Ehepaar gekauft wurde, ereignete sich ein kleines lokales Wunder: Die sozial gesinnten neuen Eigentümer beschlossen, das Haus nahezu kostenfrei dem Radio und anderen engagierten Kräften zur Verfügung zu stellen. Als 2017 das zehnjährige Bestehen des Radios gefeiert wurde, verwies die Ankündigung auf das Festival der Regionen als Gründungsimpuls, ohne dass dies zum Zeitpunkt der ersten Radioworkshops in irgendeiner Weise absehbar gewesen wäre. Aus Erfahrungen wie dieser folgt auch die Überzeugung, dass es für die beliebten Evaluationsfragen nach den „Wirkungen“ und der „Nachhaltigkeit“ unbedingt einer Langzeitbeobachtung bedarf, die versteht, dass Kulturprojekte nur eines der vielen Bestandteile einer erfolgreichen Entwicklungsstrategie sein können.

Es braucht viele, um Orte lebenswert zu machen

Sobald man unter Zugrundelegung eines zeitgemäß erweiterten Kunstbegriffs den Kreis der Beteiligten erhöht, vervielfachen sich die Kooperationsbeziehungen und letztendlich auch die Finanzierungspotenziale. Jenseits der eng gefassten Kunst- und Kulturförderung existieren viele Programme, die sich der Regionalentwicklung, Nachhaltigkeitsthemen, aber auch der Tourismuswerbung und/oder der allgemeinen Wirtschaftsförderung widmen. Gesamthaft angelegte Förderprogramme wie etwa LEADER setzen daher mittlerweile voraus, dass neben den „harten“ Themen auch kulturelle Impulse Eingang in die Entwicklungsstrategien finden. Hier schließt sich der Kreis zu Beuys, dessen berühmtes Diktum, dass „jeder Mensch ein Künstler“ sei, meist verkürzt zitiert und rein „kreativ“ verstanden wird. Liest man Beuys’ eigene Präzisierung vor dem Hintergrund der hier angesprochenen Entwicklungsfragen, fällt sofort auf, dass auch der Paradekünstler eine Haltung ausdrückt, die davon ausgeht, dass die Potenziale der Kunst nicht getrennt von den Möglichkeiten anderer gesellschaftlicher Kräfte gesehen werden können: Denn Beuys sagte: „Denn dies ist die große Fälschung, die immer wieder fabriziert wird, bösartig und bewusst entstellt wiedergegeben wird, dass wenn ich sage: jeder Mensch ist ein Künstler, ich sagen wolle, jeder Mensch ist ein guter Maler. Gerade das war ja nicht gemeint, sondern es war ja die Fähigkeit gemeint, an jedem Arbeitsplatz, und es war gemeint, die Fähigkeit einer Krankenschwester oder die Fähigkeit eines Landwirtes als gestalterische Potenz und sie zu erkennen als zugehörig einer künstlerischen Aufgabenstellung. Das war ja gemeint.Mayer, Hans; Beuys, Joseph, et al.: Reden über das eigene Land – Deutschland 3, München 19851 Also: Ob „auf dem Land“ oder „in der Stadt“, es braucht immer viele, um Orte lebenswert und überlebensfähig zu machen.

Literatur

Mayer, Hans; Beuys, Joseph, et al.: Reden über das eigene Land – Deutschland 3, München 1985.