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Perspektiven der Provinz

Thomas Krüger ist Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung. Wo sieht er die Herausforderungen des Wandels auf dem Land? Ein kurzes Gespräch zum Versprechen gleichwertiger Lebensverhältnisse, zum modernen Gemeinschaftsgefühl und zur Bedeutung von Raumpionieren.

Lieber Thomas Krüger, wenn vom Land gesprochen wird, fällt häufig auch der Begriff der Provinz. Warum hat die Provinz in vielen Debatten selten eine gute Lobby?

Thomas Krüger: Der Begriff der Provinz ist im Deutschen negativ konnotiert, obwohl mit ihm ursprünglich nur eine Verwaltungseinheit beschrieben wurde. Was also wird überhaupt als „Provinz“ bezeichnet? Auch Metropolen sind schließlich Verwaltungseinheiten. Die ehemalige Bundeshauptstadt Bonn galt – und gilt! - als „provinziell“, da es hier oft bedächtiger und geruhsamer zuging, als in anderen Hauptstädten. Und manche Berliner neigen in ihrem provinziellen Übermut dazu, alles außerhalb ihrer Stadtgrenzen als Provinz abzutun. In urbanen Großstädten zeigen sich oft neue Trends, kulturell wie gesellschaftlich, auch infrastrukturell wird hier mehr investiert. Damit werden andere Teile des Landes indirekt als „rückständig“ abqualifiziert. Doch da stimmt vielleicht der Vergleichsmaßstab nicht. Wenn wir nach einer „guten Gesellschaft“ oder dem „guten Leben“ fragen, werden wir eben nicht nur in den Metropolen fündig. Grund dafür ist die Pluralisierung der Lebensstile und die voranschreitende Individualisierung. Viele Menschen haben zudem ein Bedürfnis nach Gemeinschaft, die sie je nach ihren Vorstellungen sowohl in den Ballungsräumen als auch im ländlichen Raum realisieren wollen. Je nach Kriterien leben zwischen einem und zwei Drittel der Bevölkerung in Deutschland im ländlichen Raum. Sie tun es gerne und oft bewusst. Aber die ökonomischen Entwicklungen führen zu einer zunehmenden Vernachlässigung des ländlichen Raumes. Das Gefühl des Abgehängtseins ist nicht nur ein Gefühl, es ist auch eine durch ökonomische Logik und politische Prioritätensetzung verursachte Realität.

Ein Narrativ lautet: In der Provinz zeigen sich schon heute Probleme, die die gesamte Gesellschaft in Zukunft herausfordern werden, Stichwort: demografischer Wandel, Vereinsamung, Radikalisierung. Wie stehen Sie zu dieser Erzählung? Was tut die politische Bildung in Bezug auf ländliche Räume?

Krüger: Der ländliche Raum ist in ökonomischer und kultureller Hinsicht labiler, verletzlicher. Sicherlich stellt dabei der demografische Wandel die Menschen auf dem Lande vor eine größere Herausforderung; viele Ältere bleiben in den Dörfern und Kleinstädten zurück und die Jungen wandern auf der Suche nach Perspektiven in die Ballungsräume ab. Aber das ist bei weitem auch nicht überall so. Wo sich auf dem Land, im Dorf, Angebote erhalten haben – Geschäfte des alltäglichen Bedarfs, Kindergärten, Schulen usw. trifft man meistens auch auf eine prosperierende Wirtschaft sowie auf eine gute Anbindung an Ballungsräume. Es gibt dann hinreichend Beschäftigung und Perspektiven für die nächste Generation. In diesen Fällen wird die ländliche Region als Lebensqualität erlebt, die man nicht missen möchte. Umgekehrt können wir auch auf größere Städte treffen, die einst durch Wirtschaft geprägt waren, heute aber schrumpfen und keine Perspektiven mehr haben. Diese Aspekte sind also nicht ausschließlich für ländliche Regionen typisch, sondern sind in prekären Kontexten anzutreffen, wo Menschen keine Perspektiven, keine Beschäftigung und kaum Möglichkeiten zur Vergemeinschaftung haben. Menschen spüren dann, dass die beschworenen „gleichwertigen Lebensverhältnisse“ nur noch eine Worthülse sind. Aktuelle soziologische Beschreibungen sprechen deshalb von neuen „kulturellen Bruchlinien“, die sich beobachten lassen. In den Ballungsräumen trifft man häufiger auf kosmopolitische Eliten, die sich dort ökonomisch, kulturell und politisch besser entfalten können und die – wie Andreas Reckwitz schreibt – für eine „Gesellschaft der Singularitäten“ stehen, während uns im ländlichen Raum eher kommunitäre Lebensentwürfe begegnen, die auf der Suche nach Vergemeinschaftung sind, dafür aber nur noch begrenzte Ressourcen vorfinden.

Für die politische Bildung im ländlichen Raum sind deshalb Bildungsziele, die auf die Stärkung des Vergemeinschaftungsbedürfnisses zielen und dabei demokratische Prinzipien verfolgen, wichtig. Das kann auf die Stärkung von Verbandsstrukturen, die Schaffung einer kulturellen Infrastruktur und entsprechender Angebote oder das Coaching von glaubwürdigen Multiplikatoren hinauslaufen, die Ausgangspunkte von Hoffnung werden und Zusammenhalt stiften können.

Durch Zentralisierung werden Entscheidungen von der lokalen Ebene wegverlagert. Gerhard Henkel hat dazu festgestellt, dass in Deutschland so über Jahrhunderte gewachsene Strukturen der Selbstverwaltung zerstört wurden, was vielfach zu Resignation und Politikverdrossenheit geführt hat. Welche Perspektiven erkennen Sie vor dem Hintergrund dieser Analyse für ländliche periphere Räume?

Krüger: Durch Gebietsreformen und Zentralisierungen, die häufig neoliberalen Überlegungen folgen, fehlen mittlerweile vielerorts die repräsentativen und politischen Ansprechpartnerinnen auf der lokalen Ebene, die Amtsträger, die sich für ihr Dorf oder ihren Landkreis stark machen und auch auf die Dorfgemeinschaft integrierend wirken können und Zusammenhalt stiften. Es ist doch absurd, wenn ich für eine öffentliche Dienstleistung 40 km zum nächsten Bürgeramt reisen muss. Das Versprechen der gleichwertigen Lebensverhältnisse bekommt hier Risse und ihm folgt die schwindende Akzeptanz politischer Repräsentanz auf dem Fuß. Aber es gibt natürlich auch ländliche Räume, in denen sich demokratisch gesinnte Menschen in die Pflicht nehmen lassen, etwas für ihre Gemeinde zu tun, als Ansprechperson und Respektsperson zur Verfügung zu stehen. Sie sind die „ländlichen Raumpioniere“, denen die Ressourcen für eine Rekonstruktion des Öffentlichen zur Verfügung stehen müssen. Dies genau gilt es zu unterstützen und dort, wo das nicht der Fall ist, zu initiieren.

Gerade im ländlichen Raum sind die Menschen aufeinander angewiesen. Sie teilen nicht selten ähnliche Wertevorstellungen und haben noch ein Gespür dafür, was Solidarität bedeutet. Auf der anderen Seite bezahlen die Menschen das ­– wenn auch nicht überall – oft mit stärkerer sozialer Kontrolle und normativeren Lebensentwürfen. Wer das nicht mitmachen will, findet sich schnell auf der Seite der Ausgegrenzten. Die Chance ländlicher Räume besteht für meine Begriffe in einem dezidiert inklusiven Verständnis von Gemeinschaft, das stark genug ist, heterogenen Lebensentwürfen Platz einzuräumen. Gemeinschaften, die auf Homogenität setzen, werden es zunehmend schwer haben, weil sie schon in der Nachbargemeinschaft auf Grenzen stoßen können und einer Welt nachträumen, die es längst nicht mehr gibt und die man nur noch auf Zeit rekonstruieren kann.

Zur Person: Thomas Krüger absolvierte zunächst von 1976 bis 1979 eine Ausbildung zum Facharbeiter für Plast- und Elastverarbeitung und studierte dann Theologie, anschließend war er Vikar. Seine politische Karriere begann er 1989 als eines der Gründungsmitglieder der Sozialdemokraten in der DDR (SDP), er war Mitglied der Volkskammer in der DDR und Erster Stellvertreter des Oberbürgermeisters in Ost-Berlin von 1990 bis 1991. Von 1991 bis 1994 war er Senator für Jugend und Familie in Berlin. Als Mitglied des Deutschen Bundestages war er von 1994 bis 1998 aktiv, bevor er eine zweijährige Erziehungspause nahm. Seit Juli 2000 ist er Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb.