Mit der Theaterwerkstatt Schwäbische Alb hat das Landestheater Tübingen zwischen 2016 und 2018 sechs partizipative Kunstprojekte in Gemeinden auf der Schwäbischen Alb umgesetzt. Thorsten Weckherlin, Intendant des Theaters, über aktuelle Fragen, zukünftige Herausforderungen und versteckte Potenziale.
Als Landestheater haben wir den kulturpolitischen Auftrag, in der Fläche präsent zu sein. Diesen Auftrag erfüllten wir bisher vor allem durch Gastspiele in Kleinstädten und Gemeinden im ländlichen Raum, die über einen geeigneten Spielort verfügen. Das Landestheater Tübingen ist also auf vielen Brettern in Baden-Württemberg zuhause. Aber reicht uns das?
Angesichts der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen haben wir uns die Frage gestellt, wie das Landestheater der Zukunft aussehen wird. Werden die Stadthallen auch in ein paar Jahren noch voll sein? Ist in diesen Hallen neues Publikum zu generieren? Wie erreichen wir die Orte, die keine Infrastruktur für Theaterveranstaltungen haben? Und interessiert das, was wir anbieten, auch die jungen Leute? Wie können wir auf Herausforderungen wie die Landflucht und den demografischen Wandel reagieren?
Durch TRAFO konnten wir von 2016 bis 2018 nach Antworten suchen – und wir haben einige gefunden. Als Theaterwerkstatt Schwäbische Alb haben wir sechs partizipative Kunstprojekte in Gemeinden auf der Schwäbischen Alb umgesetzt. Dabei arbeiteten wir stets mit Partnern wie Vereinen, Kultureinrichtungen, Schulen und Bürgerinnen aus dem jeweiligen Ort zusammen. So unterschiedlich wie die Arbeitsweisen der beteiligten Künstler waren auch die Formate: Von einer Video-Hike-App über ein dokumentarisches Stationentheater, Installationen, Wohnzimmerlesungen, Workshops bis hin zu Hörstationen für den öffentlichen Raum. Vier Aspekte haben in unserer Theaterwerkstatt Schwäbische Alb eine besondere Rolle gespielt:
Partizipation: Wir boten Bürgerinnen aus ländlichen Räumen die Möglichkeit, nicht nur Zuschauer zu sein, sondern selbst kreativ und aktiv zu werden. Wir haben geschützte Räume schaffen können, in denen sich Menschen aller Generationen ausprobieren und zu Themen in Beziehung setzen konnten – immer begleitet von professionellen Künstlerinnen, die Erfahrung in der Arbeit mit Bürgern haben.
Outreach: Wir konnten – im wahrsten Sinne des Wortes – nach draußen gehen und fernab der Stadthallen ein Programm für Personen machen, die bisher nicht zu unserem klassischen Publikum gehören.
Lokale Themen: Wir haben Geschichte(n) aus der Region aufgreifen und uns mit den Herausforderungen von Menschen aus ländlichen Räumen beschäftigen können. Wir haben ländliche Regionen als Orte der Kreativität verstehen gelernt und ein differenziertes Bild des Landlebens entwerfen können.
Austausch: Wir haben erreicht, dass sich Künstlerinnen und Bürger, das Landestheater Tübingen und die Partner vor Ort, verschiedene Akteure einer Dorfgemeinschaft, aber auch Stadt- und Landbewohner auf Augenhöhe begegnen und miteinander
ins Gespräch kommen konnten.
Unsere Erfahrungen haben unsere Annahmen bestätigt: Das Interesse für Theater und die Offenheit für andere Kunstformen war überall groß. Zum Beispiel in dem kleinen Ort Upflamör. Dort fand 2018 das Landschaftstheater „Der Schatz von Upflamör“ unter der künstlerischen Leitung von Arnd Heuwinkel mit 30 Laiendarstellerinnen unterschiedlicher Altersgruppen aus der Dorfgemeinschaft statt. Die Menschen aus Upflamör haben die gemeinsame Arbeit und die humorvolle Auseinandersetzung mit der fiktiven Geschichte ihres Ortes als Gewinn erlebt. Am Ende standen vier ausverkaufte Vorstellungen mit weit über 1.000 Besucherinnen.
Exkurs: Partizipative Projekte der Theaterwerkstatt
Fünf Beispiele im Überblick
Video-Hike
Den Anfang machte der Video-Hike des Autors und Regisseurs Tobias Rausch. Im Frühjahr/Sommer 2016 entwickelte er gemeinsam mit über 150 Beteiligten aus Winterlingen und Umgebung eine Wanderung durch den Ort. An mehreren Stationen konnte das Publikum auf dem eigenen Mobiltelefon Videos über Menschen aus Winterlingen und ihren Geschichten anschauen.
Paradiesische Zeiten
Ein junges Künstlerteam um Jeffrey Döring hat sich von November 2016 bis März 2017 in Winterlingen einquartiert. Die Künstler recherchierten zu den Themen Migration und Heimat und führten zahlreiche Gespräche mit den Bewohnerinnen. Daraus entstanden Kunst- und Begegnungsformate, die unter dem Titel „Paradiesische Zeiten“ in einem leerstehenden Ladenlokal gezeigt wurden. Zum Abschluss inszenierten sie das dokumentarische Stationentheater „Schule der Sehnsüchte“, das sich mit dem Kommen und Gehen und mit Heimat befasste.
(im Verschwinden erscheint es)
Von März bis Juli 2017 zogen die Künstler Susanne Schuster, Micha Kranixfeld und Felix Worpenberg in die Gemeinde Engstingen. In Ausstellungen, Workshops und Theaterstücken haben sie sich mit den Engstingern und mit dem Strukturwandel ihres Ortes auseinandergesetzt. Zum Abschied haben sie eine Zeitkapsel mit Gegenständen auf dem Engstinger Kirchturm hinterlegt, die erst im Jahr 2042 wieder geöffnet wird und davon berichten soll, was nicht in Vergessenheit geraten darf.
Über die Dörfer – Alb: hören
Der Dramaturg Tilman Neuffer und der bildende Künstler Hans HS Winkler haben von April bis Juli 2017 auf der Alb Geschichten gesucht. In verschiedenen Gemeinden haben die Künstler Menschen getroffen, die von großen und kleinen Geschichten der Alb erzählen. Die Erzählungen können in Hörskulpturen angehört werden, die in ehemaligen Telefonzellen eingebaut sind.
Der Schatz von Upflamör
Der Regisseur Arnd Heuwinkel hat gemeinsam mit über 30 Bewohnerinnen aller Altersgruppen im Dorf Upflamör eine musikalische Landschaftstheateraufführung erarbeitet. Unter dem Titel „Der Schatz von Upflamör“ hat er einen Theaterspaziergang durch den Ort inszeniert, der die Qualitäten des Landlebens beleuchtet.
Erschienen im April 2020.